Schonungsloser Bericht über den Bankenkrach

Ein Land räumt auf

Mag ein isländischer Vulkan den Flugverkehr in halb Europa lähmen - Island wird von anderem erschüttert. Nach anderthalb Jahren erscheint endlich ein Untersuchungsbericht über den Zusammenbruch des nationalen Finanzsystems im Oktober 2008.

Montag nach Ostern, 2010: Ein Land hält den Atem an. In Firmen und öffentlichen Einrichtungen, in Schulen und Altersheimen versammelt man sich vor dem Fernseher. Um 10:15 Uhr vormittags präsentiert die Untersuchungskommission die wichtigsten Ergebnisse einjähriger Arbeit. Am Nachmittag folgt schon die nächste Sondersendung, über die erste Diskussion des Berichts im "Althingi" (Parlament).

Gelebte Demokratie: Alle sollen es wissen. Lastautos bringen die neunbändige Druckausgabe zu Buchhandlungen im ganzen Land. Der vollständige Bericht, rund 2.500 Seiten, wird im Internet veröffentlicht. Viele wollen es tatsächlich genau wissen: Sämtliche 1.000 Exemplare im freien Handel sind binnen Stunden ausverkauft, mehr als jeder Bestseller in Island am ersten Tag absetzt.

Dabei war die Skepsis groß. Mehrmals war die Veröffentlichung verschoben worden. Zwölf der 147 Einvernommenen hatten durchgesetzt, den Bericht vor Veröffentlichung zu Gesicht zu bekommen. Doch die drei Kommissionsmitglieder - der Richter Páll Hreinsson, die Wirtschaftswissenschaftlerin Sigrídur Benediktsdóttir, der Parlamentsvertreter Tryggvi Gunnarsson - lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

Seit diesem Montag, dem 12. April, wird allerorts diskutiert, unter Freunden und Fremden, beim Einkaufen, im Büro oder Schwimmbad. Über wirtschaftliche, politische, juristische Verantwortung. Täglich veröffentlichen die Medien neue Details aus dem Bericht, folgen Stellungnahmen und Interviews. Je nach Temperament fassungslos, aufgebracht oder resigniert nimmt man zur Kenntnis, wie das Vermögen einer reichen Gesellschaft veruntreut und geplündert wurde. Allein die Pleite der Zentralbank, ein Bankrott unter anderen, kostet jeden Steuerzahler rund 10.000 Euro.

Im Theater der Stadt Reykjavík wird der Bericht in voller Länge vorgelesen, Tag und Nacht, rund um die Uhr. Die Mitglieder des Ensembles wechseln einander ab, kämpfen sich durch lange Listen von Namen und Firmen, sowie astronomisch hohe Zahlen: Investitionen, Transaktionen, Verluste, Schulden.

Wie verhält man sich bei dieser Art Aufführung? Applaudiert man am Ende eines Kapitels?

Die Zuschauer vor der "Neuen Bühne" des Stadttheaters klatschen nicht. Es ist zu ernst, zu unangenehm, was hier symbolisch nochmals verkündet wird: Missachtung von Gesetzen und Regeln, persönliche Bereicherung, Manipulation von Entscheidungen sowie schlicht Unfähigkeit in Banken und beteiligten Firmen. Bei Regierung und Behörden dagegen Untätigkeit und Unfähigkeit, Planlosigkeit, Fahrlässigkeit.

Diese Vorlesung über Tage und Nächte hinweg macht auch deutlich, welche Herkules-Arbeit die Untersuchungskommission geleistet hat. Was ihr Bericht schwarz auf weiß festhält, das entspricht allerdings gar nicht dem Selbstbild einer Gesellschaft, die sich lange für besonders gleichberechtigt und transparent halten durfte. Das kann jetzt so recht niemand mehr behaupten.

Wenn etwas Grund zur Zuversicht gibt, dann ist es vielleicht die Akribie und Konsequenz, mit der dieser Bericht erstellt wurde und jetzt diskutiert wird.

Die Folgen bleiben abzuwarten. Viele befürchten, dass es kaum zu Gerichtsprozessen und Verurteilungen kommen wird. Und isländische Wahlberechtigte scheinen vergesslich - oder jedenfalls nicht nachtragend: In jüngsten Umfragen lag die Unabhängigkeitspartei Sjálfstaedisflokkurinn, politisch hauptverantwortlich für den Bankenkrach und 2009 abgewählt, schon wieder bei 40 Prozent. Doch das war noch vor dem 12. April 2010, dem Tag, nach dem Island - vielleicht? - ganz anders wird.