Die Dinge beim Namen nennen

Istanbuls Schriftsteller

Die Türkei ist einer der wenigen wachsenden Buchmärkte der Welt. Und Istanbul, die Kulturhauptstadt 2010, ist die türkische Metropole der Literatur – die meisten Schriftsteller, die meisten Verlage, die meisten Leser.

Kulturjournal, 30.04.2010

Sie sind alle sehr vorsichtig, ein wenig misstrauisch. Was wissen denn die Westler schon von türkischer Literatur? Was von den Verhältnissen im Land? Den Militärputschen und seinen Folgen, von der Historie der ethnischen Säuberungen, die offiziellerseits hartnäckig beschwiegen, verniedlicht oder geleugnet wird. Was wissen sie von der einzigartigen Rolle, die Schriftsteller in der Türkei spielen: Dass sie diejenigen sind, die diesem wiederholt von Amnesien befallenen Land zu einer Sprache verhelfen, inzwischen nahezu ungestraft. Ein seltener Glücksfall für Schriftsteller ist dieses zwischen Tradition und Moderne zerrissene Land. Ein seltener Glücksfall für das Land sind seine Schriftsteller.

"Es gibt sehr ernste Vorurteile gegenüber türkischen Schriftstellern und türkischer Literatur im Westen", beklagt Sema Kaygusuz. "In Deutschland ist mir aufgefallen, dass man zuallererst darauf schaut, ob der betreffende türkische Autor an den Tabus seines Landes rüttelt. Sei es das Kopftuch, die armenische Frage, die Militärdiktatur. Solche Fragen stehen im Vordergrund. Schreibt der Autor über diese sensiblen politischen Punkte, dann hält man ihn für einen guten Autor. Macht er das nicht, ist er erst einmal ein zweifelhafter Autor", so Sema Kaygusuz, eine zierliche 38-Jährige, weiter. Kaygusuz entstammt einer alevitischen Familie, ihr Vater wurde 1980, während des letzten Militärputschs verfolgt. Nach dem Putsch mit mehreren hundert Toten, Tausenden Gefolterten, gingen viele Intellektuelle ins Exil. Die meisten verstummten.

"In dieser Atmosphäre haben wir uns völlig in die Leere geworfen gefühlt. Unsere Vorbilder waren diskreditiert. Mit dem neuen Motto der Türkei 'Glück durch Konsum' konnten wir nichts anfangen", sagt Kaygusuz. "Und so gehöre ich einer völlig aufgeschmissenen Generation an, die bei Null angefangen hat und immer noch auf der Suche ist."

Gegen das Schweigen anschreiben

Kaygusuz' Texte, von denen einige auch ins Deutsche übersetzt wurden, wirken schwer zugänglich, verrätselt. Sie schreibe an gegen das Schweigen, sagt sie. Gegen gut gehütete schlimme Geheimnisse – zum Beispiel Atatürks Bombardement der kurdischen Aleviten im Jahr 1938.

Viele Schriftsteller der Türkei sehen es als ihre Aufgabe, Tabuisiertes zur Sprache zu bringen. Darunter auch die 37-jährige Sebnem Isigüzel, die in ihrem Roman "Am Rand" die Türkei als Müllkippe beschreibt.

"Ich möchte, dass die Türkei sich ihren Schandtaten stellt", sagt Isigüzel. "Ich möchte, dass sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt. Zurzeit sitzt die Türkei auf einem Müllberg. Sie sollte aufräumen, sie sollte sich von ihrem Schmutz befreien. Man muss eine Erklärung für die vergangenen Ereignisse und für die bis heute gültige Putsch-Verfassung abgeben. Wir brauchen einfach mehr Demokratie."

Die Türkei als Irrenhaus

Anders Ayfer Tunc, die blondmähnige, sportliche 46-Jährige. In ihrem letzten, dem zehnten Roman, zeichnet sie die Türkei als Irrenhaus, ist aber trotzdem, auf eine selbstgenügsame Weise, vollkommen einverstanden mit ihrem Land. Immerhin liefere es den Stoff, aus dem sie ihre Romane baue:

"Ich brauche das Schreiben jeden Tag. Was damit zusammenhängt, dass ich nicht genug vom Leben bekommen kann. Ich schlüpfe beim Schreiben in andere Personen, andere Zeiten. Das vervollständigt mich, macht mich zu der, die ich eigentlich bin. Das Leben an sich ist ja nicht so toll. Das Schreiben ist ein Trick, mit dem ich es ausweite. Und so wird es erträglich."

Feminismus aus der Mode

Weder Sema Kaygusuz, noch Sebnem Isigüzel, noch Ayfer Tunc sehen sich als Feministinnen. Dieser Begriff scheint in der Türkei überhaupt ziemlich aus der Mode gekommen. Nur die 44-jährige, im Stil des Surrealismus schreibende Müge Iplikci würde dieses Etikett für sich gelten lassen, aber nur unter einer Bedingung: "Wenn mich diese Bezeichnung nicht zu der Anderen machte. Wir haben es ja heute in der Türkei mit vielen Gruppierungen zu tun, die ausgeschlossen werden. Aleviten sind die Anderen, Kurden, Armenier, Feministinnen. Diese Zuschreibungen stehen in der Türkei sehr stark im Vordergrund. Und wir müssen uns die Frage stellen: Warum?"

Dabei wäre Feminismus das Gebot der Stunde, auch in der 15-Millionen-Metropole Istanbul. Westliche Besucher der Kulturhauptstadt 2010 wird befremden, dass sie kaum auf arbeitende Frauen treffen. Istanbul hat zwar mehr Bankerinnen als Frankfurt, mehr Professorinnen als ganz Deutschland, aber sonst? Laut OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, sind nur rund 20 Prozent der türkischen Frauen erwerbstätig – weniger als im Iran.

Das "Gift" Tradition

"Über die Landflucht sind gewissermaßen urbanisierte Dörfler dabei, die Dorfsitten noch strenger durchzusetzen. Weil sie abgenabelt sind, und weil sie der Meinung sind, sie würden sich verraten, das Dorf verraten, ihre Mutter verraten, wenn sie sich nicht an diesen Sitten festhalten. Es gibt auch schöne Sitten. Ich möchte nicht alles verteufeln. Aber wenn es um Mann und Frau geht, dann kommt man früher oder später auf die Tradition und die Tradition ist in der Türkei das Gift. Das Gift für jeden, der sich individualisieren möchte."

Feridun Zaimoglu, ein deutscher Schriftsteller mit türkischen Eltern, hat für seinen Roman "Hinterland" in Istanbul recherchiert. Seit 1950 hat sich die Einwohnerzahl der Stadt auf heute 15 Millionen verzehnfacht, und zwar durch den steten Zustrom der abfällig sogenannten "Bergtürken" aus dem Osten Anatoliens. Sie lassen die Armenviertel der Stadt anschwellen, nehmen Istanbul von seinem westlich-urbanen Flair und laden die Atmosphäre mit patriarchalem Starrsinn und grimmigem Fleiß auf.

Und sie machen Istanbul zu einem Spiegelbild der ganzen Türkei. Nicht umsonst wurde der konservativ-religiöse Tayyip Erdogan erst Bürgermeister der größten Stadt und dann Staatschef des Landes. Der 63-jährige türkeiweit bekannte Istanbuler Liedermacher, Filmer und Romancier Zülfü Livaneli verlor damals als Bürgermeisterkandidat gegen ihn.

Ein großer Dienst am Land

"Einige hier im Land denken, dass die Partei Erdogans, die AKP, die größte Bedrohung für eine Entwicklung Richtung Modernisierung ist. Denn die Frauen des Regierungschefs und des Präsidenten und alle Frauen der AKP-Kabinettmitglieder kleiden sich islamisch mit Kopftuch. Die Männer, die Politiker kleiden sich westlich, mit Schlips und so. Nicht besonders geschmackvoll, aber immerhin. Und die Frauen tragen das Kopftuch noch nicht einmal so wie die Iranerinnen, nein schlimmer noch. Bei unseren Politikerfrauen ist kein einziges Haar zu sehen. Selbst an den heißesten Sommertagen tragen sie dieses eng anliegende Kopftuch und ihre schweren langen Mäntel. Unsere Mädchen hassen das."

Für unsere Verhältnisse mag das pathetisch klingen, aber in der Türkei haben Schriftsteller tatsächlich die Macht, Veränderungen anzustoßen. Sie leisten ihrem Land einen großen Dienst, allein indem sie die Dinge beim Namen nennen: Völkermord an den Armeniern, Bürgerkrieg gegen die Kurden, Verachtung der Frauen, Atatürks Bombardement der alevitischen Kurden. All das sind Tabus, Sprechverbote, Denkverbote. Themen wie Nitroglyzerin. Die Schriftsteller der Türkei rühren daran. Und es knallt.