Zu Besuch bei Marina Mahler
Gustav Mahlers Enkelin
Am 7. Juli 2010 jährt sich exakt der Geburtstag von Gustav Mahler zum 150. Mal. Anlass, ein Familienmitglied zu besuchen: seine Enkelin Marina.
27. April 2017, 15:40
Kulturjournal, 07.07.2010
Gemeinsam mit seiner ebenfalls berühmten Frau Alma bekam Gustav Mahler eine Tochter: Anna. Die 1904 geborene bildende Künstlerin, die in Rom drei Jahre bei De Chirico studiert hatte, ging zwanzig Jahre vor ihrem Tod wieder nach Italien zurück. Gemeinsam mit Tochter Marina kaufte sie ein Haus in Spoleto, das von Marina Mahler jetzt revitalisiert worden ist.
"Einzigartiges" Spoleto
Spoleto präsentiert sich in Hochform als wir Marina Mahler besuchen. In wenigen Stunden wird mit Gustav Mahlers erster Symphonie das heurige Festival zu Ende gehen. Und seine Enkelin bittet uns in ihr Haus - nicht ohne gleich ein Loblied auf den Ort anzustimmen:
"Die Stadt ist einzigartig. Und jeder Künstler, ob Mann oder Frau, den ich hierherbringe, ist sofort inspiriert. Alle wollen sofort etwas tun, etwas geben - und das ist etwas ganz wunderbares, das diese Stadt bewirkt."
Es sei die wunderbare Stille, die sie hier so fasziniert. Hier im mittelalterlichen Zentrum zu leben, sei wie ein Traum, der wahr geworden ist. "Man hat den Eindruck, man tritt in eine Welt ohne Zeit ein", sagt Marina Mahler. "Die Glocken geben den Rhythmus an. Sonne und Schatten ebenfalls. Und das, was ich am meisten an diesem Haus liebe, ist genau das: das Spiel von Licht und Schatten."
Offenes Haus für Künstler
Marina Mahler, schlank, zierlich und elegant, führt uns in den Innenhof. Ein gigantischer Magnolienbaum und eine große Skulptur - ein Werk ihrer Mutter Anna, der Tochter von Gustav Mahler und Alma Mahler-Werfel - dominieren den Raum. Der Tisch ist gedeckt. Später wird Diego Mateuz herunterkommen, sagt sie. Der 25-jährige Venezolaner - ein aufgehender Star am Dirigentenhimmel, gefördert von Claudio Abbado - ruht sich gerade für den Abend aus. Ein junger Schriftsteller schaut kurz vorbei. Marina Mahler führt ein offenes Haus. Und fördert Künstler.
"Die jungen Künstler sind die Zukunft", meint sie. "Man muss sie unterstützen. Vor allem in Zeiten der Krise. Und ich spreche nicht nur vom finanziellen Aspekt. Auch weltanschaulich gesehen befinden wir uns in Turbolenzen. Da gibt es keinen besseren Weg, als junge kreative Geister zu fördern." Um diesem Vorhaben gerecht zu werden, hat sie vor kurzem eine Gesellschaft ins Leben gerufen, die den Namen ihrer Mutter Anna trägt.
Von London nach Kalifornien
Diese Anna-Mahler-Association soll junge Künstler - Bildhauer, Maler, Musiker, aber auch Schriftsteller - fördern; soll Stipendien vergeben, Aufenthalte in Spoleto inbegriffen. Ein Projekt, das erst am Anfang steht, aber der eher zurückhaltenden, aber sehr aktiven Mäzenin ein besonderes Herzensanliegen ist: "Denn ich glaube an das Individuum. Denn eine einzelne Person kann Gigantisches vollbringen."
Geboren wurde die Tochter der Bildhauerin Anna Maler und dem aus Kiew stammenden Dirigenten Anatole Fistoulari in London. Einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg verließ Anna Mahler London, wohin sie 1939 vor den Nazis geflohen war. Gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter zog sie nach Kalifornien, zu ihrer Mutter: Alma.
"Wir sind zuerst zu Alma in ihr Haus in Beverly Hills gezogen. Für mich war das ein totaler Wechsel. Von London nach Kalifornien, wo es Palmen gab. Und sogar eine Schildkröte im Garten. Und dann war da Alma. Sie war wenig einladend, aber sehr faszinierend. Ich war sieben Jahre alt und liebte alles, was schön war. Und sie war sehr schön. Denn sie strahlte von innen heraus und konnte dies auch kommunizieren. Ich war daher sehr glücklich. Meine Mutter aber weniger. Denn sie waren von einer sehr starken Hass-Liebe aneinander gebunden."
Haus der Stille
Mutter Anna und Tochter Marina zogen daher bald wieder aus. Das neue Domizil, ein Haus auf dem Land, war sehr bescheiden, aber perfekt für die bildende Künstlerin geeignet.
"Ich hörte immer den Klang ihrer Werkzeuge: Hammer und Meißel", erinnert sich Marina. "Die gaben den Rhythmus vor - sonst gab es nur Stille, denn wir lebten sehr abgeschieden. Dann war da überall Marmorstaub und viele kleine Marmorstückchen. Wir lebten schweigend zusammen. Denn sie brauchte die Stille, um arbeiten zu können."
Die kleine Marina flüchtete sich in die Welt der Bücher. Mit 18 ging sie zurück nach Europa. Voll der Neugierde auf die sogenannte alte Welt. Als die Mutter in den 1960ern ein Haus in England kaufen wollte, schlug Marina Italien vor:
"Ich weiß gar nicht, warum ich das gesagt hatte, denn ich kannte Italien überhaupt nicht. Vielleicht war es die Sprache. Denn Mama las mir ab meinem dritten Lebensjahr immer aus dem 'Inferno' von Dante vor, weil mir der Klang so gefiel. Ich habe kein Wort verstanden. Aber es war wie Musik und das muss etwas in mir ausgelöst haben."
Ein "gütiges Lächeln"
1968 wurden die beiden in Spoleto fündig. Das heute völlig renovierte Haus gleicht einer Art Anna-Mahler-Museum. Statuen und Büsten berühmter Künstler, von Arnold Schönberg bis Vicky Baum, schmücken die Räumlichkeiten. Eine der größten Büsten: die von Großvater Gustav. Meine Frage: Haben Sie oft über ihn gesprochen?
"Ganz selten", antwortet Mahler. "Aber was mich sehr beeindruckt hat, ist, was meine Mutter über sein Lächeln sagte. Mein Großvater ist auf allen Fotos sehr ernst. Es gibt ein einziges Bild - an einem Strand in Holland - da lächelt er. Meine Mutter sagte aber, wenn er lächelte, war es, als würde die Sonne aufgehen. Er hatte ein so breites, offenes und gütiges Lächeln. Das hat mich so beeindruckt. Denn ich finde auch in seiner Musik so viel Lebensfreude. Neben der Melancholie, der Leidenschaft, dem Leiden ist da diese Freude."
Freude und Liebe, das sei das Wichtigste im Leben, sagt die Mutter einer erwachsenen Tochter, die nicht gern über sich selbst spricht, sondern lieber über die Familie. Eine erdrückende Präsenz? "Ja und nein", meint Mahler. "Ich habe den Einfluss zuerst nicht gespürt, denn ich lebte ja am Land in Kalifornien. Am Anfang gab es da gar nichts. Kein Radio. Kein Fernsehen. Andererseits wurden durch diese Familie die Anforderungen unglaublich hoch gesteckt. Es war daher unmöglich, diesen zu entsprechen. Sprich: Unmöglich, das zu tun, was man eigentlich selber wollte."
Derzeit wird Deutsch gelernt
Auch heute, wenn sie nicht gerade Nachwuchsorchester oder Festivals fördert, schreibt Marina Mahler. Worüber? Das ist noch zu früh, lächelt sie etwas verlegen. Schreiben, das ist ihr wichtig, sagt sie. Und die deutsche Sprache, die sie, die Englisch, Französisch und Italienisch spricht, nur passiv erlernt hat:
"Meine Mutter hat nie in deutscher Sprache mit mir gesprochen. Ich hörte aber die Freunde sprechen. Es gab damals ja eine große deutschsprachige Kolonie. Da waren die Familien Mann und Schönberg, die ja alle in Los Angeles gelandet sind. Die kamen zu uns nach Hause. Mich schickten sie ins Bett. Aber ich habe mich dann aber zur Tür meines Zimmers geschlichen und habe den Gesprächen in deutscher Sprache gelauscht."
Also büffelt sie derzeit Deutsch. Angespornt durch die Freundschaften, die sich in den vergangenen Jahren in Österreich entwickelt haben. Und von einem großen Ausstellungsprojekt in Wien: Dabei wird sich alles um Anna Mahler drehen, jenen Menschen, der - so Marina - der Nährboden für ihr gesamten Leben war.