von Johannes Tröndle

Das Zeitmesser - Kapitel 1-6

Ein etwas eigenbrötlerischer Bub lebt mit seinen Eltern und dem Großonkel mit Holzbein, der früher einmal Fußballer gewesen sein soll, in einem Holzhaus. Die Eltern bauen Geigen, der Bub hat einen Wecker "Made in Finnland". Der Bub versteht vieles nicht. Was er nicht versteht, schreibt der Bub in sein Schreibheft.

1

Die anderen Kinder mit Taschengeld sammelten Spinnen und rissen ihnen die Beine aus. Ich hatte Taschengeld und sammelte gar nichts. Von meinem ersten Taschengeld kaufte ich mir ein Schreibheft und einen Wecker aus rotem Plastik.

2

Meine Familie bestand aus meinen Eltern, meinem Großonkel und mir. Wir lebten am Stadtrand in einem Haus aus Holz. Es gab verschiedene Holzzimmer, zum Beispiel eine Holzküche, eine Holzwerkstatt, ein Holzgroßonkelzimmer, einen Keller, in dem verschiedenes Holz gelagert wurde, oder ein Kinderzimmer. Hier lebte ich.

Unser Haus war ein sehr altes Haus, älter als der Großonkel sogar, wie meine Eltern gelegentlich behaupteten, was ich mir aber nicht recht vorstellen konnte. Meine Eltern waren immer in der Werkstatt oder in der Küche, von wo sie mir gelegentlich etwas zuriefen. Ich war immer in der Schule oder in meinem Kinderzimmer. Mein Großonkel war nie in der Werkstatt oder in der Küche oder in meinem Kinderzimmer, er rief mir auch nie etwas zu, sondern er saß im Großonkelzimmer auf einem Stuhl.

3

'Eine Spinne sitzt auf dem Großonkel', schrieb ich in mein Schreibheft.

'Der Großonkel hat ein Holzbein', behaupteten meine Eltern, oder: 'Der Großonkel ist vor vielen, vielen Jahren einmal in Finnland gewesen'.

Ich schrieb mit Füllfeder und Tintenkiller, obwohl meine Eltern dieses Wort nicht mochten, weil es englisch war. Im Großonkelzimmer lief das Radio. Das Radio spielte Popmusik.

'Dein Großonkel tickt nicht mehr richtig', behaupteten meine Schulkameraden und lachten.

'Bald wird der Großonkel tot sein', behaupteten meine Eltern gelegentlich, oder:

'Seine Zeit läuft ab'.

Auch in der Küche lief manchmal das Radio. Meine Eltern hatten keinen Fernseher und das Küchenradio spielte 'Kunstmusik' oder am Sonntag die Messe.

'Was heißt Made?', fragte ich meine Eltern.

'Der Großonkel hat nie einen richtigen Beruf ausgeübt', riefen meine Eltern mir aus der Küche zu.

'Made', schlug ich im Lexikon meiner Eltern nach.

'Stummelfüße', las ich und hielt die Luft an.

'Stummelfüße' flüsterte ich, bekam Angst und dachte an den Großonkel, wie er im Großonkelzimmer saß, während meine Eltern in der Werkstatt waren.

'Made in Finland', schrieb ich in mein Schreibheft, weil ich das auf meinem Wecker gelesen hatte.

4

Ich verbrachte den allergrößten Teil meiner Kindheit in meinem Kinderzimmer. Ich besaß ein Holzbett, einen Holzschreibtisch und Spielzeug, zum Beispiel ein Messer, eine Rolle, Bauklötze, einen Reifen oder eine Holzgeige. Die Bauklötze und die Holzgeige hatten mir meine Eltern zum Spielen gebaut. Die Holzgeige bekam ich zu meinem siebten Geburtstag. Die Bauklötze waren schon immer da. Meine Eltern bauten und besaßen sehr viele Holzgeigen, mit denen sie gelegentlich gemeinsam in der Küche etwas spielten.

'Der Großonkel kann nichts mehr hören', riefen meine Eltern mir gelegentlich aus der Küche zu, oder:

'Der Großonkel war früher Fußballer'.

Ich spielte nie auf meiner Holzgeige, weder in der Küche noch anderswo. Ich spielte überhaupt nie etwas, auch mit dem anderen Holzspielzeug spielte ich nie, sondern ich saß auf meinem Holzbett, kaute heimlich Kaugummi und schrieb in mein Schreibheft oder hörte meinem Wecker zu oder gelegentlich meinen Eltern und ihren Geigen. Meine Kinderzimmertüre war immer geschlossen, außer ich öffnete sie, um zur Schule oder zum Abendessen zu gehen.

'Deine Eltern bauen Geigen', behaupteten meine Schulkameraden und lachten.

'Du nimmst Rücksicht auf den Großonkel, du bist vernünftig, auch wenn er es nicht verdient hat', behaupteten meine Eltern.

'Du warst ein seltsames Kind', schrieben mir meine Eltern erst viel später in einem Brief, als der Großonkel schon längst tot war.

5

Jeden Morgen wurde ich um sieben Uhr von meinem Wecker geweckt. Der Wecker stand auf meinem Nachtkästchen. Er läutete laut, schnell und mit Batterie. Neugierig musterte ich mein Kinderzimmer. Alle weichen Gegenstände, die ich besaß, hatten eine blaue oder eine grüne Farbe. Meine Eltern nannten diese weichen Farben 'Pastelltöne'. Alle harten Gegenstände, die ich besaß, hatten eine Holzfarbe. Bis auf das Messer, das ich unter dem Holzbett versteckt hielt und das teilweise aus Silber war. Und bis auf meinen Wecker, der ebenfalls ein harter Gegenstand war und eine rote Plastikfarbe hatte. Die harten Holzfarben nannten meine Eltern 'natürlich'. Die Plastikfarbe nannten sie 'giftig'. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, warum die blauen und grünen Farben 'Pastelltöne' sein sollten.

Die einzigen Töne in meinem Kinderzimmer konnte schließlich die Holzgeige machen, auch wenn ich sie nie spielte.

'Batterien sind giftig, viele Fische sind tot', behaupteten meine Eltern gelegentlich.

'Batterie', schrieb ich in mein Schreibheft, und:

'Fische sind tot', bevor ich es mit Tintenkiller wieder löschte, weil ich Angst bekam.

'Mein erster Wecker', schrieb ich stattdessen, und ergänzte:

'Rotes Plastik'.

Allerdings hatte nur das sogenannte 'Gehäuse' eine rote Plastikfarbe. Die Zeiger nämlich, die ebenfalls aus Plastik waren, wie meine Eltern gelegentlich behaupteten, hatten weiße, schwarze und manchmal grüne Plastikfarben.

'Gehäuse', flüsterte ich und hielt die Luft an. Ich zählte bis einundzwanzig und dachte an den Großonkel.

'Gebeine', schrieb ich in mein Schreibheft, bekam Angst und dachte schnell an etwas anderes.

6

Mein Wecker hatte vier verschiedene Zeiger. Einen Sekundenzeiger, einen Minutenzeiger, einen Stundenzeiger und einen Aufweckzeiger. Alle Zeiger bewegten sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten aufgrund der Batterie. Der Aufweckzeiger allerdings bewegte sich gar nicht, wie mir auffiel, sondern er bewegte sich nur, wenn ich ihn bewegte. Ich bewegte ihn allerdings nie. Der Aufweckzeiger stand immer auf sieben Uhr und sobald der Stundenzeiger den Aufweckzeiger zudeckte, schaltete sich die Batterie ein, ein Fisch war tot, und ich musste zur Schule oder zum Abendessen.

'Schule', riefen meine Eltern aus der Küche, oder:

'Es ist an der Zeit', oder:

'Spuck den Kaugummi aus'.

Vor dem Abendessen wurde 'Komm Herr Jesus' gebetet. Freitags gab es immer Fisch. Ich schloss die Augen und zählte bis einundzwanzig. Als ich die Augen wieder öffnete, war nicht Herr Jesus gekommen, sondern der Großonkel und holte eine Suppe ab. Der Herr Jesus hingegen hing in der Küche, in meinem Kinderzimmer und in meinem Klassenzimmer auf einem Holzkreuz und war bereits tot.

'Der Großonkel hat im Krieg nur Suppe gegessen', behaupteten meine Eltern gelegentlich.

Doch ich konnte mir nicht recht vorstellen, was das bedeuten sollte.

'Der Großonkel kriegt immer Suppe', schrieb ich in mein Schreibheft, und ergänzte:

'Sieben Uhr Sieben'.

Dann schlug ich das Schreibheft zu, kroch unter das Holzbett, nahm mein Messer und ritzte ein Zeichen unter das Bett, weil es meine Eltern dort nicht lesen konnten. Manchmal liefen mir kleine Spinnen über den Weg. Sie bewegten sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, doch ich traute mich nicht, sie anzufassen. Als es dunkel wurde, schlief ich ein.