Das Zeitmesser, Kapitel 7-14

7
Meine Eltern benötigten nicht viel Schlaf. Meine Eltern benötigten auch keinen Wecker. Sie waren 'Frühaufsteher'. Ich war ebenfalls Frühaufsteher, denn ich musste zur Schule gehen. Mein Großonkel benötigte gar keinen Schlaf mehr. Er hatte genug geschlafen, wie meine Eltern behaupteten. Mein Großonkel benötigte keinen Schlaf und keinen Wecker, überlegte ich, weil er in der Früh, aber auch tagsüber oder in der Nacht auf einem Stuhl saß und nebenbei das Radio lief.

'Der Großonkel ist viele Jahre gesessen', behaupteten meine Eltern gelegentlich, oder:

'Es ist ein Kreuz mit ihm'.

Das Großonkelzimmer war das einzige Zimmer in unserem Holzhaus, in dem kein Kreuz an der Wand hing, sondern ein Fußballfoto. Auch viele meiner Schulkameraden wollten später Fußballer werden. Meine Schulkameraden hörten Popmusik.

'Fußballer ist kein richtiger Beruf', sagte ich einmal und meine Schulkameraden lachten.

'Die Kunst geht uns über alles, die Kunst ist lebendig', riefen meine Eltern mir gelegentlich aus der Küche zu, oder:

'Kaugummi ist Kunststoff und klebt'.

'Wo liegt Finland', fragte ich meine Eltern.

Meine Eltern mochten keine künstlichen Gegenstände, sondern natürliche, zum Beispiel 'Kunstmusik', Holzleim oder Fisch. Manchmal musste ich für meine Eltern Gegenstände aus dem Holzkeller holen. Im Holzkeller lebten viele Spinnen und der Holzwurm, den ich aber noch nie gesehen hatte. Der Fisch lag eingefroren in der Tiefkühltruhe und bewegte sich nicht.
'Finland', schlug ich im Lexikon meiner Eltern nach. Doch ich fand nur 'Finnland', mit zwei 'n', doch ich dachte es machte nichts, weil es nur ein Buchstabe Unterschied war.

'Holzwurm', schlug ich nach und fand ein Bild, das mir Angst machte.

'Der Großonkel war lange Zeit im Krankenhaus und musste künstlich am Leben erhalten werden', behaupteten meine Eltern einmal.

'Fischfang' las ich und hielt die Luft an.

'Künstliches Leben', schrieb ich in mein Schreibheft, und: 'kleben', und dachte, dass es nur ein Buchstabe Unterschied war.

8

'Du schläfst zu viel, du solltest Freunde haben', riefen meine Eltern mir gelegentlich aus der Küche zu.

'Der Großonkel war immer einsam', behaupteten meine Eltern manchmal, oder:

'Der Großonkel ist ein schwarzes Schaf'.

Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte. Ich benötigte viel Schlaf, aber ich benötigte sehr wenig Freunde. Ich dachte oft an meinen Wecker. Vielleicht war mein Wecker mein Freund?

'Holz ist lebendig, Plastik ist tot', riefen meine Eltern gelegentlich.

'Ich habe einen toten Freund', überlegte ich und bekam Angst.

Meine Eltern aber begannen, Schulkameraden in unser Holzhaus einzuladen. Meine Eltern nannten meine Schulkameraden 'Schulfreunde'. Manchmal bemerkte ich, wie sich meine Kinderzimmertüre öffnete und ein Schulkamerad oder eine Schulkameradin eintrat. Sie hielten Kaugummi und buntes Spielzeug in den Händen und fragten mich, ob ich mit diesem Spielzeug spielen will.

'Was heißt finnisch', fragten mich meine Schulkameraden gelegentlich.

'Ich habe keine Zeit', sagte ich oft und betrachtete meinen Wecker.

9

Nachts erwachte ich manchmal und machte das Licht an. Ich ging zum Großonkelzimmer und schaute durchs Schlüsselloch. Der Großonkel war verschwunden. Auf dem Stuhl des Großonkels saß ein Schulkamerad. Auf dem Schoß des Schulkameraden saß ein schwarzes Schaf. Das schwarze Schaf ließ sich streicheln. Dann riss der Schulkamerad dem schwarzen Schaf einige Haare aus. Das schwarze Schaf und der Schulkamerad lachten. Aber das Schaf ist doch tot, überlegte ich, und im Radio lief die Messe. Ich ging in mein Kinderzimmer zurück. Auf der Wand gegenüber war riesengroß mein Wecker aufgemalt und ein finnisches Wort, das ich nicht verstand. Jemand musste es in der Zwischenzeit aufgemalt haben. Oder es war nur ein Schatten, überlegte ich.

10

Am nächsten Morgen war der aufgemalte Wecker verschwunden. Der Wecker stand auf meinem Nachtkästchen und läutete um sieben. Es war Juni und die Sonne war aufgegangen. Ich beschloss, den Wecker vor dem Schlafengehen unter mein Kopfkissen zu schieben. Der Aufweckzeiger und der Sekundenzeiger hatten eine schwarze Farbe. Der Minutenzeiger und der Stundenzeiger hatten eine weiße Farbe. Allerdings hatten der Minutenzeiger und der Stundenzeiger nur tagsüber eine weiße Farbe, denn sie konnten Tageslicht speichern und wenn es dunkel wurde hatten sie eine grüne 'Neonfarbe'. Mein Wecker leuchtete.

'Neonfarben sind hässlich', behaupteten meine Eltern, oder:

'Der Großonkel hat zeit seines Lebens in Spielhöllen gelebt'.

Ich konnte mir nicht recht vorstellen, was das bedeuten sollte. Denn soweit ich wusste lebte der Großonkel noch, aber ich wusste nicht, dass das Großonkelzimmer eine Spielhölle war.

'Zeit seines Lebens', schrieb ich in mein Schreibheft, und:

'Frau Hölle', weil ich wusste, dass der Großonkel einsam war.

'Du bist immer so komisch', behaupteten meine Schulkameraden manchmal und lachten, bevor sie meine Zimmertüre wieder zumachten.

'In unserem Haus gibt es eine Spielhölle', sagte ich einmal, und:

'Mein Großonkel hört Popmusik'.

'Du spinnst', behaupteten meine Schulkameraden und rissen einer Spinne die Beine aus.

'Made in Finland', las ich auf meinem Wecker und wenn es dunkel wurde, konnte ich es nicht mehr lesen, aber die Zeiger leuchteten, und ich dachte an die Made in Finnland und an das Lexikon meiner Eltern und an den Sommer in Finnland, in dem die Sonne niemals unterging.

11

'Ein Freund ist wertvoll, man beschäftigt sich mit ihm', riefen meine Eltern gelegentlich,

oder:

'Es heißt Frau Holle, nicht Frau Hölle'.

Auch Taschengeld und Zeit waren wertvoll, man durfte sie nicht 'vergeuden'.

'Viele deiner Schulfreunde vergeuden ihr Taschengeld mit Kaugummi, Fußballpickerl oder Pippi Langstrumpf', behaupteten meine Eltern, oder:

'Viele deiner Schulfreunde vergeuden ihre Zeit vor dem Fernseher'.

Ich schrieb täglich in mein Schreibheft. Für jeden Tag gab es eine Seite. Eine Seite hatte einundzwanzig Zeilen.

'Finnische Worte', schlug ich im Lexikon meiner Eltern nach.

'Er schreibt Geschichten, er ist immer beschäftigt', riefen meine Eltern gelegentlich, wenn jemand zu Besuch kam.

'Warum schreibst du nicht einfach Geschichten', riefen meine Eltern, wenn der Besuch wieder gegangen war.

Ich schrieb nie Geschichten, sondern immer nur Worte, die ich gehört, oder Sätze, die ich beobachtet hatte. Jedes Wort oder jeden Satz ergänzte ich um eine Zeitangabe. Ich suchte lange, bis ich einige finnische Worte gefunden hatte. Es gab nicht viele, und ich verstand kein einziges, doch sie gefielen mir, weil sie viele Buchstaben hatten. Viele Worte schrieb ich 'nach unten' in mein Schreibheft und ich setzte jeden Buchstaben in eine extra Zeile.

'Der Tag hat vierundzwanzig Stunden und nicht einundzwanzig', behaupteten meine Eltern gelegentlich. Doch so lange waren die finnischen Worte auch wieder nicht, denn bis ans Ende der Seite kam ich nie.

12

Ich beschäftigte mich sehr viel mit meinem Schreibheft. Noch mehr allerdings mit meinem Wecker. Oft verglich ich die Zeiger und überlegte, welcher mein Lieblingszeiger war. Der Sekundenzeiger, der Minutenzeiger oder der Stundenzeiger? Den Aufweckzeiger rechnete ich nicht mit ein. Mein Lieblingszeiger war der Sekundenzeiger.

'Jesus liebt dich', riefen mir meine Eltern gelegentlich aus der Küche zu, während ich meinen Wecker betrachtete.

'Lieblingszeiger', schrieb ich in mein Schreibheft, hielt die Luft an und zählte bis einundzwanzig.

'Der Sekundenzeiger ist den anderen beiden Zeigern überlegen', überlegte ich. Er war ihnen erstens farblich überlegen, obwohl ich erst viel später wusste, warum mir schwarz besser gefiel als weiß, und obwohl mich das nächtliche Grün der anderen beiden Zeiger erst viel später an ein Krankenhaus erinnern sollte. Er war ihnen zweitens aber auch an Geschwindigkeit überlegen, denn der Sekundenzeiger war flink, während der Minutenzeiger sich sehr müde bewegte und der Stundenzeiger wie ein Großonkel immerzu starr an seinem Ort verharrte. Und er war ihnen drittens an Lautstärke überlegen, denn sooft ich den Wecker an mein Ohr hielt, immer hörte ich das Ticken des Sekundenzeigers, während ich vom Minutenzeiger ein leises Rauschen hörte, manchmal jedenfalls, manchmal auch gar nichts, und vom Stundenzeiger hörte ich nicht nur manchmal gar nichts, sondern immer gar nichts. Der Stundenzeiger war stumm. Ich dachte an den Jesus, der an den Kreuzen hing, und auch noch nie etwas gesagt hatte.

'Kreuzspinne', flüsterte ich und zählte die Buchstaben. Es waren elf.

13

Meine Eltern hatten ein gutes Gehör.

'Wir haben feine Ohren', riefen meine Eltern mir gelegentlich aus der Küche zu.

'Wir hören alles', behaupteten meine Eltern.

Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Eltern es hörten, wenn ich gelegentlich etwas flüsterte. Meine Stimme war leise, aber ich konnte sie gut verstehen, denn sie befand sich dicht bei meinen Ohren.

'Du hast eine schöne Stimme, wenn auch wesentlich zu leise', behauptete meine Volksschullehrerin.

'Ihr habt keinen Fernseher', behaupteten meine Schulkameraden und lachten.

'Wesentlich', flüsterte ich.

'Was heißt Wesen?', fragte ich meine Eltern.

'Made ist englisch und heißt gemacht', riefen mir meine Eltern einmal zu.

Die Stimmen meiner Eltern waren etwas lauter, aber ich konnte sie ebenfalls gut verstehen, obwohl sich diese Stimmen meistens in der Küche befanden und erst durch meine Zimmertüre hindurch mussten. Der Großonkel hingegen hatte gar keine Stimme mehr, obwohl meine Eltern behaupteten, dass er manchmal etwas flüsterte.

'Verwesen', schrieb ich in mein Schreibheft, dachte an den Großonkel und bekam Angst.

14

Mein Wecker war in Finnland gemacht worden. Mein Wecker tickte finnisch.

'Finnische Zeit', schlug ich im Lexikon meiner Eltern nach und fand eine Zeichnung mit 'Zeitzonen'. Finnland war '+2', Österreich war '+1'. Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte. Offenbar gab es in Finnland eine andere Zeit, als in Österreich. Verglich ich aber die Zeit, die auf meinem Wecker angezeigt war, mit der Zeit auf der Küchenuhr, so war es auf beiden Uhren sieben.

'Wie alt ist der Großonkel?', fragte ich meine Eltern.

'Die heutige Zeit ist schnelllebig', riefen mir meine Eltern aus der Küche zu.

Nach dem Abendessen wurde es dunkel. Ich betrachtete die grünen Plastikfarben. Nach einer Weile schob ich den Wecker unter mein Kopfkissen und hörte den Sekundenzeiger dicht bei meinen Ohren.

'Jedes Geräusch ist mit einer Art von Bewegung verbunden', überlegte ich und zählte bis einundzwanzig. Ist die Bewegung aber so langsam wie ein Stundenzeiger, dann ist das Geräusch so leise, dass es verschwindet.

'Für immer' flüsterte ich in die Dunkelheit meines Zimmers hinein.

'Tot', sagte ich und hielt lange die Luft an und hörte auf den Sekundenzeiger, der sich unter dem Kopfkissen weiterbewegte, als wäre nichts geschehen.