Von Johannes Tröndle

Das Zeitmesser, Kapitel 15-20

15
Nachts erwachte ich manchmal und machte das Licht an. An der Wand gegenüber hockte eine Spinne. Der Holzwurm, überlegte ich. Ich hörte den Sekundenzeiger dicht bei meinen Ohren, hielt die Luft an und wagte es nicht, mich zu bewegen. Auch der Holzwurm bewegte sich nicht. Auf meinem Schreibtischstuhl aber saß der Großonkel und aß einen Fisch.

Der Großonkel spricht finnisch, dachte ich und bemerkte, dass ich keine Angst vor ihm hatte. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass der Holzwurm nicht an der Wand gegenüber, sondern auf dem Holzbein hockte. Das Holzbein war rot, das musste an der 'Zeitzone' liegen. Plötzlich bemerkte ich, dass der Sekundenzeiger immer langsamer wurde. Ich wollte den Großonkel warnen, aber mir fiel kein finnisches Wort ein, also schrie ich. Es ist doch nur eine Spinne, flüsterte der Großonkel und lächelte. Ich holte den Wecker unter dem Kopfkissen hervor. Als ich ihn betrachtete, begann er zu läuten.

16

'Du bist immer so pünktlich', behauptete meine Volksschullehrerin.

'Du musst wesentlich mehr Bewegung machen' behaupteten meine Eltern und kauften mir ein Fahrrad und eine Haube.

'Es ist Sommer', riefen meine Schulkameraden und lachten.

Die Haube war ein weicher Gegenstand und hatte eine blaue Farbe. Das Fahrrad war ein harter Gegenstand und hatte eine Holzfarbe, obwohl das Fahrrad aus Plastik und Metall war. Ich fuhr nur ungern mit dem Fahrrad. Wenn ich nicht mit ihm fuhr, stand es im Holzkeller neben der Tiefkühltruhe.

'Deine Ohren sind empfindlich', behaupteten meine Eltern, oder:

'Im Keller ist es kalt'.

Meine Eltern liebten mich, wie sie auch Jesus liebten und dieser wiederum mich.

'Du wirst einen richtigen Beruf ausüben', riefen meine Eltern mir gelegentlich aus der Küche zu, oder:

'Stell das Fahrrad in den Holzkeller'.

Ich wusste allerdings nicht, was das bedeuten sollte. Ich mochte den Sekundenzeiger. Aber ob ich ihn liebte? Meine Eltern mochten keine Sekundenzeiger. Meine Eltern betrachteten Sekundenzeiger mit 'Argwohn'.

'Dieses Ticken nervt', behaupteten meine Eltern argwöhnisch.

Die Küchenuhr hatte keinen Sekundenzeiger. Der Sekundenzeiger meiner Eltern hieß 'Metronom'.

'Das Metronom tötet die Musik, doch es ist gelegentlich nützlich', behaupteten meine Eltern.

Das 'Metronom' stand ebenfalls in der Küche. Es war aus Holz und tickte, während meine Eltern mit den Holzgeigen spielten. Oft verglich ich das Ticken des 'Metronoms' mit dem Ticken meines Sekundenzeigers. Mein Sekundenzeiger tickte immer im selben Rhythmus. Er ließ sich nicht verstellen, er war ruhig und 'natürlich'. Das 'Metronom' aber konnte mal schneller und mal langsamer ticken. Es ist eine Kunst, genau im Takt des Metronoms zu spielen, behaupteten meine Eltern. Meistens war das 'Metronom' zu schnell.

'Die heutige Zeit ist hektisch', riefen meine Eltern gelegentlich.

'Deine Eltern sind Geigenbauern', lachten meine Schulkameraden.

'Mein Großonkel ist ein schwarzes Schaf', sagte ich einmal.

'Deine Schulkameraden waren aus einem anderen Holz geschnitzt', schrieben mir meine Eltern erst viel später, als ich mit der Schule schon längst fertig war.

17

Jeden Abend schob ich den Wecker unter mein Kopfkissen, doch jeden Morgen stand der Wecker wieder auf meinem Nachtkästchen. Das beunruhigte mich. Jemand musste ihn in der Zwischenzeit dorthin gestellt haben.

'Aufstehen', riefen meine Eltern, oder:

'Bewegung'.

'Herzlich willkommen', riefen meine Eltern nur, wenn jemand zu Besuch kam. Der Besuch gehörte, wie meine Eltern, einer 'Bewegung' an, doch ich wusste nicht, was das bedeuten sollte.

'Bewegung ist wichtig', behaupteten meine Eltern.

Ich machte das Licht an. Der Stundenzeiger stand auf sieben. Regungslos und starr verharrte er an seinem Ort.

'Und doch hatte er sich in der Zwischenzeit um elf Stunden im Uhrzeigersinn nach vorwärts bewegt', überlegte ich. Das flößte mir Respekt ein und beruhigte mich, weil ich wusste, dass er in der Zwischenzeit nicht tot gewesen sein konnte. Ich betrachtete den Sekundenzeiger, wie er flink und lebendig nach vorwärts sprang. Doch dann dachte ich wieder an den Stundenzeiger und wurde ärgerlich.

'Bewegung' riefen meine Eltern in der Zwischenzeit wieder.

Offensichtlich wollte mich der Stundenzeiger nicht an seinen Bewegungen teilhaben lassen. Er bewegte sich nur, wenn ich schlief oder in der Schule war. Er bewegte sich nur, wenn ich abwesend war. In meiner Anwesenheit bewegte er sich nie.

'Was heißt Wesen?', fragte ich meine Eltern wieder.

'Großonkels Holzbein ist eigentlich aus Plastik', behaupteten meine Eltern einmal. Doch sofort dachte ich an das Wort 'verwesen', hielt die Luft an und stand auf.

18

'Du hast dir ein umweltfreundliches Schreibheft gekauft', riefen mir meine Eltern zu, oder:

'Du könntest mit dem Fahrrad in die Schule fahren anstatt zu Fuß'.

'Deine Beine sind so dünn wie eine Spinne', behaupteten meine Schulkameraden und lachten.

Immer wenn ich Fahrrad fuhr, tickte mein Herz in meinen Ohren. Das erinnerte mich an den Sekundenzeiger, doch ich durfte den Wecker nicht mit in die Schule nehmen. Die Pausenglocke läutete im Stundentakt. Mein Herz allerdings tickte im Sekundentakt. Manchmal zählte ich, wie viele Sekunden eine Stunde hat, doch ich kam nur bis einundzwanzig und es wurde dunkel.

'Wenn man tot ist, ist es, wie wenn ein Licht ausgeht', behaupteten meine Eltern gelegentlich, oder:

'Im Himmel ist es hell'.

'Du warst kein besonders aufgewecktes Kind', behauptete meine Volksschullehrerin, allerdings erst viele Jahre später.

'Wenn du einundzwanzig bist, wirst du eventuell unsere Werkstatt übernehmen', riefen mir meine Eltern gelegentlich aus der Küche zu, oder:

'Die Zeiten ändern sich'.

'Einundzwanzig' schrieb ich in mein Schreibheft, zählte die Buchstaben und bekam Angst. Doch ich konnte keine Veränderung bemerken. Manchmal dachte ich an den Sommer in Finnland, und ob der Großonkel die Sonne gesehen hatte, die nie unterging. Doch ich wusste, dass der Großonkel nicht im Sommer in Finnland gewesen war, sondern im Krieg.

'Meine Kindheit', schrieb ich in mein Schreibheft.

'Meine Kindheit war ein Missverständnis', schrieb ich erst viel später in einem Brief an meine Eltern, als meine Eltern schon längst in einer anderen Zeit lebten.

19

Nachts erwachte ich und machte das Licht an. Ich bemerkte, wie sich meine Kinderzimmertüre öffnete und ein Schulkamerad eintrat. Er hielt buntes Spielzeug in den Händen und fragten mich, ob ich mit diesem Spielzeug spielen will. Es ist doch mitten in der Nacht, überlegte ich und der Schulkamerad lachte.

'Ich habe keine Zeit', behauptete ich und hörte auf den Sekundenzeiger, dicht bei meinen Ohren. Plötzlich bemerkte ich, dass der Großonkel verschwunden war.

'Du wirst dir eine Mittelohrentzündung holen', riefen meine Eltern mir in der Zwischenzeit aus der Küche zu, oder:

'Setz die blaue Haube auf'.

Ich kroch unter das Bett und griff nach dem Messer. Überall unter dem Bett waren alte Zeichen eingeritzt, die ich noch niemals gesehen hatte.

'Wie spät ist es?', fragte ich meine Eltern.

'Der Großonkel ist eigentlich schon seit vielen Jahren tot', behaupteten meine Eltern.

'Wie spät ist es?', fragte ich meine Eltern wieder.

Aber sie antworteten mir nicht. In der Küche hörte ich das 'Metronom'.

20

Am nächsten Morgen erwachte ich um sieben Uhr. Mein Wecker war verschwunden. Auch mein Kinderzimmer war verschwunden. Alles war 'neongrün' und aus Plastik.

'Du bist im Krankenhaus', behaupteten meine Eltern. Die Stimmen meiner Eltern klangen seltsam, weil die Stimmen sich dicht bei meinen Ohren befanden und flüsterten. Meine Ohren schmerzten. Im Radio lief Popmusik.

'Er wird es überleben', flüsterten meinen Eltern und weinten, doch ich konnte mir nicht recht vorstellen, was das bedeuteten sollte.

'Wo ist der Großonkel', fragte ich meine Eltern, und:

'Ich muss doch gleich in der Schule sein'.

'Er hat das Zeitgefühl verloren', behaupteten meine Eltern, aber ich wusste nicht, ob sie mich meinten, oder den Großonkel.

'Man muss nur einundzwanzig sagen, soviel ist eine Sekunde', riefen meine Eltern gelegentlich.

'Einundzwanzig einundzwanzig', riefen meine Schulkameraden manchmal, oder:

'2 x 3 macht 4 Widdewiddewitt und Drei macht Neune'.

Meine Schulkameraden spielten mit ihren Spinnen. Meine Eltern spielten mit ihren Geigen. Der Großonkel saß im Großonkelzimmer auf einem Stuhl.

'Möchtest du mehr Taschengeld?', fragten mich meine Eltern.

'Trommelfelldurchbruch', schrieb ich in mein Schreibheft, zählte die Buchstaben und schlief ein.