Brüssel drängt Bern
Widerstand gegen Sonderverträge wächst
Die Schweiz hat mehr als 120 bilaterale Abkommen mit der EU geschlossen, beitreten will sie aber nicht. Jetzt verlangt die EU, dass auch die Schweiz EU-Recht übernimmt. Dieser Angriff auf die Souveränität hat eine heftige EU-Debatte in der Schweiz ausgelöst. Die Regierung in Bern will weitermachen wie bisher.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 20.08.2010
Bilaterale Abkommen unüberschaubar
Die EU hat immer weniger Lust, auf helvetische Sonderwünsche Rücksicht zu nehmen. Deshalb kritisierte EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barros, das Netzwerk an bilateralen Abkommen mit der Schweiz sei kompliziert und kaum mehr zu handhaben. Konkret wünscht sich die EU, dass die Schweiz beim Abschluss von neuen Verträgen das sich ständig ändernde EU-Recht gleich mit übernimmt. Was für EU-Mitglieder selbstverständlich ist, gilt derzeit für die Schweiz nicht. Es komme auch zukünftig nicht in Frage, sagt Bundespräsidentin Doris Leuthard: "Als autonomes und souveränes Land muss man Prozeduren definieren. Ich denke nicht, dass Österreich akzeptieren würde, dass Schweizer Recht automatisch in Österreich gilt."
Über neue Optionen nachdenken
Vorläufig will die Schweizer Regierung am bilateralen Weg festhalten. Aber gleichzeitig wird über mögliche neue Optionen im kriselnden Verhältnis mit der EU überlegt. Dabei ist auch eine Annäherung zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR, der 1992 von den Stimmbürgern abgelehnt wurde, kein Tabu mehr.
"Schreckgespenst" EWR
Davon will die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei nichts wissen. Das ist nicht verwunderlich, denn ihr Volkstribun und Chefstratege Christoph Blocher hat mit dem Abstimmungskampf gegen den EWR vor fast 20 Jahren, den Grundstein des Erfolgs seiner Partei gelegt. Bis heute bezeichnet Blocher den EWR als Schreckgespenst für die Schweizer Souveränität: "Die EU bestimmt dann für die Schweiz, ohne dass wir etwas zu sagen haben. Das ist ein klassischer Kolonialvertrag."
Abkommen sind Sackgasse
Die EU-Befürworter hingegen erhalten durch die Beziehungskrise mit Brüssel Auftrieb. Der bilaterale Sonderweg sei eine Sackgasse, sagt die Präsidentin der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz, Christa Markwalder. Nur als EU-Vollmitglied könne die Schweiz in Europa mitbestimmen. Sie meint: "Wir könnten unsere Interessen wahren, wo die relevanten Entscheidungen getroffen werden. Wenn wir in den EU-Institutionen ein Stimm- und Mitspracherecht haben."
Arbeitsgruppe soll Spagat lösen
Die Kritik aus Brüssel hat in der Schweiz eine heftige und emotionale EU-Debatte entfacht. Die Bevölkerung jedoch ist und bleibt EU-skeptisch, angesichts der Eurokrise mehr denn je. Sie haben das Gefühl, die EU würd zu viel über sie bestimmen und dass sie somit ihre Freiheit verlieren würden.
Eine Arbeitsgruppe mit Experten der EU und der Schweiz soll bis Jahresende mögliche neue Wege für die komplizierte Beziehung zwischen Bern und Brüssel finden. Was mit Spannung angesehen wird, denn einfacher wird der helvetische Spagat zwischen Integration und Abseitsstehen in Europa jedenfalls nicht.