Aus Christoph Schlingensiefs Tagebuch

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!

"Es geht im Leben doch nicht darum, dass wir Häuschen sammeln und unsere Autos polieren. Sondern darum, dass wir - wenn wir hier weggehen - anderen Menschen die Möglichkeit eröffnet haben, in Autonomie, also selbstbestimmt, zu leben", sagte der Aktionskünstler im Juli 2009.

"Da oben ankommen und jemanden treffen ..."

Michael Kerbler im Gespräch mit Christoph Schlingensief

Jetzt, wo ich immer mehr an das Ende denken muss, mir überlege, ob ich mein Leben gut gelebt habe, mir auch Vorwürfe mache, nicht genug für andere getan zu haben, fällt mir auf, wie viele Schwarzmaler im Christentum unterwegs sind. Leute, die düstere Botschaften verbreiten, sie aber unter der so genannten Frohen Botschaft verstecken. Eigentlich steckt hinter dieser Freudenfassade des Christentums etwas sehr Grausames.

Das ganze System ist falsch: Angeblich feiert man das Leben, die Schöpfung, aber ununterbrochen wird mit dem Sensenmanngedroht. Nachdem ich mich zum Beispiel im Herbst zum ersten Mal öffentlich geäußert habe, dass ich mich inzwischen wieder ganz gut fühle und glücklich bin, dass ich bei der Ruhrtriennale arbeiten kann, erschien so ein Artikel in einer katholischen Zeitung - ich habe sie immer "Todesbote" genannt, klingt natürlich erst mal wieder wie ein Witz, rutschte aber wirklich wie ein Freud'scher Versprecher aus mir raus. Die Zeitung heißt wohl "Tagespost" und wird von der katholischen Kirche herausgegeben.

In dem Artikel heißt es, dass ich meine Krankheit inszenieren würde und mal wieder provozieren wolle, statt mich um die Förderung der Hospizbewegung zu kümmern: Denn da würde das wahre Sterben stattfinden, da müssten die Leute begleitet werden, da könne man das Tabu des Sterbens in unserer Gesellschaft brechen. Ich würde da ja auch gar nicht widersprechen, klar ist die Hospizbewegung eine gute Sache.

Es ist mir inzwischen auch egal, wenn jemand, der augenscheinlich keine Ahnung von meiner Arbeit hat, mich mal wieder als Provokateur bezeichnet. Aber der Redakteur schrieb eben auch, dass ich mir, statt meine Krankheit öffentlich zur Tragödie zu stilisieren, mehr Gedanken über die echte Kultur des Sterbens machen solle, bevor es zu spät sei.

Als Schlusssatz des Artikels stand da wirklich: "Bevor es zu spät ist." Das ist genau dieser Hammer, der in dem System lauert: Diese Drohung, man solle auf Erden alles ins Reine bringen, bevor es zu spät ist. Unter dem Motto: Wenn du stirbst, dann sind die Würfel gefallen, dann wird man entscheiden über dich. Was ist das für ein Horror? Was soll das? Ich werde so wütend, wenn ich mir klarmache, was für ein bösartiger Ansatz das ist, der einem jede Freude am Leben nehmen will.

Kommt eine Eintagsfliege auf die Welt und kriegt gesagt: So, du hast jetzt 24 Stunden Zeit und wehe, du wirst dich nicht a) weiterentwickeln b) zum Guten wenden c) Gutes tun und d) begreifen, dass du in Gottes Hand bist. Wenn du das nicht hinkriegst, dann sind die Würfel gefallen, dann kommst du als Elefant auf die Erde zurück. Das ist doch eine aberwitzige Höllenmaschine, die da angeworfen wird. Und e) habe ich sogar noch vergessen: Wehe, wenn du dich zum Sterben nicht ins stille Kämmerchen zurückziehst. Weil Sterben sei "still, lautlos, wortlos und handlungslos" - das steht wortwörtlich so in diesem Artikel.

Daher solle ich mich zurückziehen und verstummen, das sei die einzige angemessene Reaktion auf die Einsicht, wie hinfällig das Leben ist. Und nicht noch als Berserker auf irgendeiner Bühne rumtoben und die nicht kranke Bevölkerung damit belasten ... Oh Mann! Da kann einen ja nur trösten, dass der letzte Papst wohl auch einen schweren Fehler gemacht hat, als er da bis zuletzt immer wieder ans Fensterchen gefahren kam, um sich den Leuten zu zeigen und seinen Segen ins Mikrofon zu flüstern.

Klar forme ich mein Leiden, klar gehe ich von meinen Erfahrungen aus, was soll ich denn sonst tun? Wenn man Krebs hat, ist das nicht schön, aber man muss doch damit umgehen lernen und mit diesem Zustand weitermachen. Ich kann meine Krankheit, meine Todesangst natürlich auch verschweigen, das will ich aber nicht. Ich will über Krankheit, Sterben und Tod sprechen. Gegen diese Ächtungskultur ansprechen, die den Kranken Redeverbot erteilt.

Ich gieße eine soziale Plastik aus meiner Krankheit. Und ich arbeite am erweiterten Krankenbegriff. Es geht nicht darum, den Leidensbeauftragten zu geben, es geht ganz einfach ums Zeigen. Und natürlich darf man in der Öffentlichkeit auch seine Tränen zeigen. Warum denn nicht? Was haben die alle für Probleme mit ihrem Selbstüberwachungsstaat? Als besäßen wir alle irgendein kleines Kästchen, das gegenüber allen anderen beschützt werden muss. Die sollen mal ihre Emotionen rauslassen, die Leute! Scheiß doch auf dieses ganze Absicherungsgetue, dieses Verstecken vor den anderen! Diese meterdicken Verbände, die sich die Leute um ihre Wunden wickeln, können mir gestohlen bleiben.

Ich will in dem Zustand, in dem ich jetzt bin, jemand anderem begegnen und sagen: Schauen Sie, hören Sie! Und der autonome Betrachter reagiert, indem er vor allem mit sich selbst umgehen muss. Dann ist das nicht Christoph Schlingensiefs Leidensweg, sondern viel mehr. Ob das dann noch richtiges Theater ist - wen interessiert's?

Und wenn die Leute das nicht wollen, wenn sie sagen, ich sei ein Terrorist, der ihnen zu nahe tritt, dann ist das eben so. Dann ist das auch eine Reaktion.

Service

Aus: Christoph Schlingensief, "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung", Copyright 2009 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln

Kiepenheuer & Witsch