Perfekter Charakterzeichner
Leo Tolstois 100. Todestag
Am 20. November 2010 jährt sich der Todestag von Leo Tolstoi zum 100. Mal. Vor 100 Jahren soll es die Engstirnigkeit und Geldgier seiner Frau gewesen sein, die den 82-jährigen Dichter in eine spektakuläre Flucht getrieben hat, die am 20. November 1910 ein paar Hundert Kilometer südlich von Moskau mit dem Tod endete.
8. April 2017, 21:58
2010 wurde zum Tolstoi-Jahr ausgerufen - einläutet mit der Filmbiografie "Ein russischer Sommer", begleitet von Neuübersetzungen und - auch das gibt es noch - einer deutschen Erstausgabe.
Kultur aktuell, 20.11.2010
International gefeierter Star
Drei Kilometer weit begleitete die Kamera den Sarg - eine historische Dokumentation zeigt den Begräbniszug von der Bahnstation bis zum Haus in Jasnaja Poljana. Am 20. November 1910 war Leo Tolstoi nach einer dramatischen Flucht vor seiner Frau auf dem Provinzbahnhof von Astapowo gestorben.
Er war eine Autorität ersten Ranges - gefeiert und geehrt vom russischen Volk, gefürchtet vom Zaren, auf seinem letzten Weg begleitet den einheimischen Bauern und Studenten aus Moskau, von Freunden und Anhängern, von Reportern und Fotografen - und von internationaler Anteilnahme. Die "New York Times" meldete nicht nur den Tod des prominentesten Autors jener Zeit, sondern auch das Ende einer Epoche.
Die "Geheimfächer der menschlichen Seele"
Zum Tolstoi-Jahr sind jetzt im Hanser Verlag zwei große Neuübersetzungen erschienen: "Krieg und Frieden", "der größte historische Roman der Weltliteratur", wie Thomas Mann meinte, und "Anna Karenina", die Rosemarie Tietze übertragen hat - nach 50 Jahren die erste neue Übersetzung.
Als "Anna Karenina" 1878 erstmals in Russland als Buch erschien, begeisterte Tolstois Kunst der Charakterzeichnung die Kritiker ebenso wie die Leser. Kaum jemand - so hieß es - könne so tief in die Geheimfächer der menschlichen Seele blicken, wie der Graf Tolsoi. Bis heute gilt "Anna Karenina" als der große, tragische Familienroman, ein Gesellschaftspanorama aus Russlands Gründerzeit.
Gedanken für alle Tage
Nach seiner gefeierten "Anna Karenina", auf der Höhe des Ruhms, fühlte sich Tolstoi - wie er schrieb - "am Abgrund angelangt". In einer schlichten Frömmigkeit, einem kirchenfernen Christentum suchte er das sogenannte "richtige Leben". In einem "Lebensbuch" bündelte er seine Maximen unter dem Titel "Für alle Tage": Texte von Sokrates und Heraklit bis hin zu Anton Tschechow hat Tolstoi da mit eigenen Reflexionen kombiniert. Für jeden Tag gibt es moralische Handlungsanweisungen, Ermahnungen, Erbauliches und Ratschläge - nicht nur für das russische Publikum. 1908 - zwei Jahre vor seinem Tod hat Tolstoi seine Gedanken "Für alle Tage" in englischer Sprache auf einer Schallplatte festgehalten.
Jetzt, zum 100. Todestag, kann man die Gedanken und Einsichten des späten Tolstoi erstmals unzensiert auf Deutsch nachlesen - in einem opulent ausgestatteten Band, der im Verlag C. H. Beck erschienen ist. Der Gedanke, den Tolstoi für den 20. November notierte:
Selbst der Tod kann demjenigen den Triumph nicht nehmen, der mit allen Kräften für das Reche kämpft.
(...)
Wer bis ans Ende ausharrt, wird gerettet werden.
Service
Leo Tolstoi, "Krieg und Frieden", aus dem Russischen übertragen von Barbara Conrad, Hanser Verlag
Leo Tolstoi, "Anna Karenina", aus dem Russischen übertragen von Rosemarie Tietze, Hanser Verlag
Leo Tolstoi, "Für alle Tage. Ein Lebensbuch", aus dem Russischen übertragen von Christiane Körner, C. H. Beck Verlag