PISA-Dauerproblem Leseschwäche

Kindergärten, Schulen, Eltern gefordert

Der PISA-Test, der am kommenden Dienstag veröffentlicht wird und bei dem es vor allem um das Lesen bei den 15- und 16jährigen geht, wird wahrscheinlich schlecht ausfallen. Beim Lesen haben Österreichs Schüler aber in allen internationalen Tests bisher eher schlecht abgeschnitten. Experten sehen Kindergärten, Schulen und Eltern gefordert.

Morgenjournal, 03.12.2010

Lesen ohne Verständnis

Bei allen drei PISA-Tests bisher lagen die 15- und 16jährigen Schüler aus Österreich beim Lesen deutlich unter dem Durchschnitt der OECD-Länder. Dass es diesmal sogar noch schlechter ausgehen wird, darauf deutet auch der letzte internationale Lesevergleich für die Volksschulen hin. Auch da zeigte sich, dass in Österreich besonders viele Kinder am Ende der vierten Klasse auch einfache Texte kaum verstehen. Karl Blüml von der Schulaufsicht für die AHS im Wiener Stadtschulrat: Es schätzt, dass 23 Prozent der Schüler in den ersten Klassen dem Analphabetentum nahe sind. "Die lesen einen Text und wissen nicht, was drinnen steht. Sie können inhaltliche Fragen dazu nicht beantworten", so Blüml.

Frage der grundsätzlichen Einstellung

Die Ursachen sieht Blüml zunächst natürlich in den Elternhäusern: Wenn Kinder ihre Eltern nie lesen sehen, fangen sie auch selbst nicht damit an. Weitere Ursachen sieht Blüml aber auch an den Schulen und zwar an der grundsätzlichen Einstellung zum Lesen in der Schule.

Vorbild Finnland

Im PISA-Siegerland Finnland falle der Unterschied schon beim ersten Blick in eine Schulklasse auf, sagt Blüml: "Dort liegt auf jedem Platz ein Stapel Bücher, und zwar unterschiedliche. Die Lehre haben nichts dagegen, dass die Kinder je nach ihrem Interesse Bücher lesen." Ein Gegensatz zu unseren Schulen, so Blüml: "Wir glauben, wir müssen alle gemeinsam in der Klasse lesen, und nur das."

Hochzeit nur für Lesekundige

Die Wertschätzung des Lesens zeige sich aber auch in der finnischen Gesellschaft insgesamt, erläutert Blüml an einem durchaus überraschenden Beispiel: "Bei uns muss man Ja sagen können, wenn man heiratet. In Finnland muss man seit dem 15. Jahrhundert nachweisen können, dass man lesen kann, damit man heiraten darf."

Soziale Unterschiede ausgleichen

Diese Wertschätzung des Lesens irgendwie auch hierzulande zu vermitteln, das sei letztlich wohl die Aufgabe der Schule, meint Blüml: "Nur Schule kann in Ordnung bringen, was nicht von Haus aus gegeben wurde." Das werde eben von PISA aufgezeigt, dass das österreichische Schulsystem soziale Unterschiede nicht so gut ausgleiche wie das anderer Länder. "Da wäre einiges zu tun", so Blüml.

Mehr Förderung

Insbesondere müsste in den Schulen von Anfang an jeder Schüler mit Anzeichen von Leseschwächen individuell gefördert werden, denn Defizite könnten später nur mehr sehr schwer ausgeglichen werden. Die entsprechenden Förderprogramme dafür stünden zur Verfügung, sagt Blüml, sie müssten von den Schulen aber vermehrt auch abgerufen werden.

"Es geht um feinfühlige Beziehungen zu den Kindern"

Die deutsche Expertin für Frühpädagogik, Fabienne Becker-Stoll im Ö1-Morgenjournal-Interview am 3.12.2010 mit

Bessere Betreuung im Kindergarten

Die deutsche Expertin für Frühpädagogik, Fabienne Becker-Stoll, fordert, dass die Qualität der Betreuung in Kindergärten erhöht werden muss. Auch die Betreuung von unter Dreijährigen müsse besser werden, sagt Becker-Stoll im Ö1-Morgenjournal-Interview.

Nur wenige Kinder pro Betreuerin

Es gehe dabei nicht um großangelegte Programme, sondern um gute, feinfühlige Beziehungen der Erzieherin zu den Kindern. "Und das kann sie nur, wenn sie nicht zu viele Kinder betreuen muss und in anderen Bereichen, etwa Verwaltung oder Hauswirtschaft, entlastet wird." Eine Kindergartenpädagogin sollte nicht mehr als vier Kinder im Alter von drei Jahren zu betreuen haben, im Kindergarten dann nicht mehr als acht Kinder.

Akademische Ausbildung

Außerdem brauche es sehr gut ausgebildete Erzieherinnen und sehr gute Rahmenbedingungen. Auch eine Ausbildung an einer Universität gehört nach Ansicht Becker-Stolls dazu. "Je mehr Wissen eine Erzieherin hat, umso besser kann sie auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder eingehen."

Attraktives Angebot statt Pflicht

Im Gegensatz zu der in Österreich eingeführten Kindergartenpflicht ab fünf Jahren lehnt Becker-Stoll eine derartige Verpflichtung komplett ab. "Es muss andersrum sein." Bildungsorte müssten so attraktiv gestaltet werden, dass die Eltern, die ja meistens das Beste für ihr Kind wollten, ihr Kind dort unterbringen wollen. Grundsätzlich sei es eine große Chance, dass Kinder an einem vertrauten Ort außerhalb der Familie von und mit anderen Kindern lernen und sich entwickeln könnten, sagt die Münchner Expertin.

Fabienne Becker-Stoll leitet das Staatsinstitut für Frühpädagogik in München und
war auf Einladung des Hilfswerks in Wien.