Wütende Stimmung auf dem Tahrir-Platz
"Wir sind bereit, zu sterben"
In Ägypten ist die Armeeführung zu einer Sitzung zusammen gekommen. In einer Erklärung heißt es, die Armee wolle den demokratischen Reformprozess sichern. Ob das den Menschen auf dem Tahrir-Platz genügt, ist fraglich. Zehntausende strömen auf die Straße. Laut Bericht des TV-Senders Al-Arabiya hat Mubarak samt Familie Kairo verlassen.
27. April 2017, 15:40
Mittagsjournal, 11.02.2011
Die Massen auf den Straßen
Die Stimmung ist zornig und herausfordernd. So viele waren am Vormittag noch nie auf dem Tahrir Platz. Und es ist nicht mehr nur der Platz: beim Gebäude des verhassten staatlichen Fernsehens und beim Parlament versammeln sich ebenfalls Tausende. Überall stehen Armeepanzer, um die Gebäude zu schützen.
Immer mehr kommen angeblich auch zum Präsidentenpalast - ein gefährlicher Ort, weil hier die Präsidialgarde, die allein Mubarak untersteht, Gewalt anwenden könnte. Auch außerhalb Kairos gibt es in vielen Städten Demonstrationen.
Leben in der Zeltstadt
Aber Tahrir ist die Zentrale der Macht, sagt der ägyptischer Blogger Ahmad S., ein 24-jähriger Computerfachmann. Seit 12 Tagen ist er auf dem Platz. "Nur einmal bin ich nach Hause gefahren, um mich zu duschen", erzählt er und führt uns in sein Zelt. Es ist eine improvisierte Unterkunft aus Eisenstangen, Planen und Decken. Ein halbes Dutzend Männer sitzen da. Einer schläft. Es gibt nichts im Zelt außer Decken, nicht einmal Polster.
"Ich bin müde", sagt Ahmad, "ich habe in der Nacht kaum geschlafen. Aber wir gehen hier nicht weg. Es ist unser Traum, die einzige Chance für uns auf eine gute Zukunft. Ich möchte heiraten und Söhne haben. Es ist meine Chance auf ein gutes Leben in Frieden und Freiheit." Das Leben im Camp sei super, sagt er und lächelt: "Wir sind bereit zu sterben. Die Stimmung ist im Himmel."
"Es ist unsere Armee"
Die Rede Mubaraks habe alle nur noch zorniger gemacht. Die Leute wollen, dass er geht. "Wir wollen Suleiman nicht, wir wollen ihr Regime nicht. Wir wollen auch nicht, dass die Armee regiert", beteuert Ahmad. Aber bei wem liegt die Macht im Staat? Präsident Mubarak hat erklärt, unverändert bei ihm. Aber die Signale der Armeespitze könnten bedeuten, dass inzwischen die Armee übernommen hat. Die Unsicherheit ist groß. Auf wessen Seite wird die Armee stehen, wenn etwas passiert?
"Die Macht ist bei uns", sagt Blogger Ahmad, "und ich denke, die Armee ist auf unserer Seite. Und die, die für Mubarak sind, können nichts tun, denn wir sind viel mehr." Er ist überzeugt davon, dass die Armee nicht auf die Menschen schießen werde: "Es ist unserer Armee, nicht Mubaraks Armee." Kairo hat 15 Millionen Einwohner. Wenn fünf davon marschieren, dann sei das genug, glaubt Ahmad. Während immer mehr Menschen auf die Straßen strömen, nimmt auch die Spannung zu. Nichts ist heute vorhersehbar.
"Die Armee will die Leute nach Hause schicken."
Karim El-Gawhary aus Kairo im Gespräch mit Wolfgang Wittman.
Wut und Enttäuschung
Nach dem Freitagsgebet sei die Stimmung unter den Demonstranten besonders schlecht, berichtet Karim El-Gawhary. Sie seien wütend und enttäuscht. Einerseits von der Rede Mubaraks Donnerstagabend, aber auch von der Erklärung der Militärs.
Zwar beteuern viele Demonstranten, dass die Armee auf ihrer Seite sei, doch tatsächlich ist die Rolle des Militärs unklar. Droht am Ende eine Militärdiktatur? Die Militärs haben versprochen, den Ausnahmezustand aufzuheben, wenn alles vorbei ist. Man wolle freie und faire Wahlen garantieren - Zeitpunkt wurde allerdings keiner genannt. "Das Militär hat die Leute aufgefordert, nach Hause zu gehen und ihr normales Leben wieder aufzunehmen", sagt El-Gawhary, "doch welche Garantien gibt es, dass die vagen Versprechungen auch eingehalten werden?" Da seien die Leute auf der Straße sehr skeptisch.
Wie verhält sich die Militärführung?
Sollte das Militär tatsächlich die Macht übernehmen, so gibt es drei Szenarien, so Karim El-Gawhary: Es könnte sich auf die Seite Mubaraks stellen. Das scheint aber derzeit nicht sehr wahrscheinlich. Ein zweites Szenario: das Militär kocht sein eigenes Süppchen und versucht, seine eigenen Privilegien zu schützen. Die dritte Möglichkeit wäre, dass das Militär wirklich aktiv auf Seite der Demonstranten eingreift. Letzteres forderte bereits Mohammed El Baradei: Wenn die Armee nicht eingreife, dann würde es eine Explosion in Ägypten geben.
Derzeit sei die Stimmung unter den Demonstranten aber noch friedlich, berichtet der ORF-Korrespondent: "Die Gewalt wird sicher nicht von den Demonstranten ausgehen." Aber natürlich wisse man nicht, wie die Leibgarde Mubaraks reagieren werde, wenn die Massen auf den Präsidentenpalast marschieren. Im Augenblick halte sich die Leibgarde aber noch zurück.
Keine Gefahr von den Panzern
Von den Panzern der Armee gehe kaum Gefahr aus, glaubt El Gawhary. Manche Militärs hätten sich sogar schon auf die Seite der Demonstranten geschlagen. Am Donnerstag hat beispielsweise ein Major seine Waffe abgegeben und ist übergelaufen. Jetzt gibt er fleißig Fernseh-Interviews, in denen er Mubarak und Suleiman auffordert, zurückzutreten. In den mittleren Rängen der Armee sei die Sympathie klar auf Seiten der Demonstranten. Unklar sei, wo die oberste Militärführung stehe, so El Gawhary.
Auch Vize-Präsident Omar Suleiman hätte inzwischen die Sympathien bei der Bevölkerung verspielt. Spätestens seit Mubarak am Donnerstag einen Teil der Macht an ihn übergeben hat. "Für die Leute ist Suleiman inzwischen auch ein Symbol des alten Regimes", sagt Karim El Gawhary.
"Mubarak muss physisch weg."
Nahost-Expertin Karin Kneissl im Interview mit Wolfgang Wittmann.
Kein "Frühstücksdirektor"
Die große politische Frage derzeit ist aber, wie viel Macht hat Präsident Mubarak tatsächlich an seinen Vize abgegeben? Hosni Mubarak sei als militärischer Oberbefehlshaber zurückgetreten, erklärt Nahost-Expertin Karin Kneissl, und er hätte das Tagesgeschäft an Omar Suleiman abgegeben. Allerdings sei zu bezweifeln, dass "er die Rolle eines Frühstücksdirektors übernimmt, der nur noch protokollarische Aufgaben übernimmt", glaubt Kneissl. Und somit sei auch die Forderung der Demonstranten nicht erfüllt: "Er muss physisch weg. Das ist der Wunsch."
Konflikte in der Militärführung?
Am Donnerstagabend hatte es ja noch so ausgesehen, als ob genau dieser Wunsch in Erfüllung gehen würde. Ein General hatte den Demonstranten am Tahrir Platz noch versprochen: "Alle eure Wünsche werden in Erfüllung gehen!" Und dann kam doch alles ganz anders.
Karin Kneissl glaubt, dass es hier ein gravierendes Kommunikationsproblem zwischen Kairo und Washington gegeben habe. Einige der hohen Militärs wären gerne dem Wunsch der USA nachgekommen, den Präsidenten zurücktreten zu lassen. Aber offenbar nicht alle: "Es deutet einiges darauf hin, dass es Friktionen innerhalb der obersten Militärführung gibt." Ein militärischer Putsch sei nicht völlig auszuschließen.