Ein ernüchternder Blick auf Europa

Nikolaus Geyrhalters "Abendland"

Es sind mehr oder weniger verdeckte Krisenszenarien, die Nikolaus Geyrhalter in seinen Dokumentarfilmen genauer unter die Lupe nimmt. Jetzt hat sich der Filmemacher nichts weniger vorgenommen, als einen Zustandsbericht Europas abzuliefern. Den Titel "Abendland" nimmt der Film dabei wörtlich, denn er zeigt unseren Kontinent ausschließlich in den Abend- und Nachtstunden.

Letzte Woche war "Abendland" der Eröffnungsfilm bei der heurigen Diagonale, diesen Freitag startet der Film regulär in den heimischen Kinos.

Kultur aktuell, 29.03.2011

Mehr als siebzig Drehorte

Sprechchöre für Papst Benedikt auf dem Petersplatz in Rom. Tausende Gläubige sind zusammengeströmt, um die Worte des Kirchenoberhaupts zu hören. Mehr als siebzig Drehorte hat Nikolaus Geyrhalter für seinen Film aufgesucht, darunter auch Pop-Konzerte und das Münchner Oktoberfest. Was für Veranstaltungen ziehen die Massen an, wollte der Filmemacher wissen, womit verbringen Europäer ihre Zeit?

"Es gibt einerseits die Schau auf Europa, wie leben wir, wie schaut das im Jahre 2010/2011 aus, wie ist der Standard unseres Lebens, was ist der Inhalt unseres Lebens? Auch spielt er mit diesem Abendlandbegriff, der oft so verwendet wird, dass man damit eine überlegene Kulturform verbindet, die man vor fremden Einflüssen beschützen muss", so der Regisseur. "Diese quasi-überlegen Kulturform wollten wir uns anschauen. Und wenn wir jetzt wissen, wie unser Leben ausschaut, was tun wir dann, um es zu beschützen?"

Wie sich Europa abriegelt

Die Abriegelung Europas nach außen hin ist dann auch ein wiederkehrendes Thema im Film. Gleich die Eröffnungsszene von "Abendland" spielt an der slowakisch-ukrainischen Grenze, wo ein Beamter am Wärmebildmonitor den Landstrich nach Grenzgängern absucht. Und am anderen Ende Europas, in der spanischen Enklave Melilla in Nordafrika, fährt ein Polizist den gespenstisch beleuchteten Grenzzaun zu Marokko ab. Geyrhalter beobachtet aber auch, mit welchen Mitteln die innere Sicherheit bewahrt wird. Die deutsche Polizei etwa trainiert in Videosimulationen ihre bewaffneten Einsätze.

Geyrhalter hat seinen Film ausschließlich nach Einbruch der Nacht gedreht. Weil dort vieles deutlicher zutage trete: "Die Vorgänge, die im Hintergrund passieren, um Europa am Funktionieren zu halten, die funktionieren ja 24 Stunden. Der Apparat Europa funktioniert Tag und Nacht. In der Nacht sieht man sie deswegen klarer, weil der Alltag, das Leben wegfällt. Da bleibt nur mehr das über, was die Struktur ist", sagt Geyrhalter.

Keine Interviews und Kommentare

Wie bei allen seinen Filmen verzichtet Geyrhalter auch in "Abendland" auf Interviews und Kommentare. Sogar ohne Inserts kommt der Film aus. Wenn er durch nächtliche Flughäfen und Krankenhäuser streift, oder Nachrichtenmoderatoren und Pornodarstellern bei der Arbeit zusieht, dann werden die konkreten Städte des Geschehens nicht genannt.

"Eine von den vielen Thesen, mit denen wir in das Projekt gegangen sind, war ja auch die, dass Europa sich als Eines sieht und verkauft. Deswegen haben wir das als ein Dorf betrachtet. De facto hat sich das zum großen Teil bestätigt, dass Orte immer austauschbarer werden, dass Europa wirklich zusammenwächst in einer Weise, die sehr viel mit Vereinheitlichung zu tun hat", erläutert Geyrhalter.

Nüchtern-ernüchternden Blick

"Abendland" wirft einen nüchtern-ernüchternden Blick auf Europa. Seine Bilder sagen nicht nur mehr als tausend Worte, sie sind auch weit eindringlicher als so mancher Kommentar. Dass der Film überraschende Assoziationen knüpft, macht ihn außerdem noch äußerst spannend.

Textfassung: Rainer Elstner

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