Die Masche mit dem zivilen Ungehorsam

Guerilla Knitting

"Zuhause stricken war gestern", entschieden Vera Brlica und Katharina Nopp vor einigen Jahren und initiierten 2006 unter dem Motto "Wiener Umschlag" gezielte Strickaktionen auf öffentlichen Plätzen, in Kaffeehäusern oder Bars. Aus anfangs spontanen Aktivitäten wurden bald regelmäßige öffentliche Stricktreffen.

Inzwischen tagt der Wiener Umschlag einmal monatlich im Café Rüdigerhof und erfreut sich beständig regen Zustroms. Zwischen Biergläsern und Kaffeetassen, Schinken-Käse-Toast und Guglhupf liegen zahlreiche Wollknäuel, Stricknadeln und halbfertige Strickwerke. An den Kaffeehaustischen sitzen einander unbekannte Menschen zusammen, geben sich gegenseitig Tipps und Anleitungen, lachen, tratschen und philosophieren über Gott und die Welt.

Wiener Umschlag bestrickt den öffentlichen Raum

Das geregelte Stadtbild durch textile Interventionen zu stören und weiblich konnotierte Heimarbeit hinaus ins öffentliche Leben zu tragen, das ist eines der Anliegen der Strickistinnen rund um ihre Gründerinnen Antonia Wenzl und Betina Aumair. Seit rund einem Jahr fällt Wien immer wieder dem Strickismus anheim: in Gestalt von umstrickten Laternenmasten, Brückenpfeilern oder Fahrradständern. Es sind keine öffentliche Strickaktion, sondern heimlich montierte Installationen, nicht dekorativ oder nützlich, sondern irritierend und mit klarer Botschaft, erklärt Antonia Wenzl.

Knit her story

Während in New York, London oder Paris seit Jahren immer wieder quasi über Nacht Zäune, Denkmäler und ganze Fahrzeuge eingestrickt werden, macht sich Guerilla Knitting in österreichischen Städten erst seit kurzem bemerkbar. Das erste große Projekt stellten die Strickistinnen im März unter dem Titel "Knit her story" auf die Beine. Anlässlich des 100. Frauentags wurden zahlreiche Objekte entlang der Wiener Ringstraße umstrickt. Die bunten Textilkunstwerke dokumentierten mit Symbolen und gestrickten politischen Schlagworten die Geschichte der Frauenbewegung und sorgten für weit mehr Aufruhr als sich die 100 teilnehmenden Textilkünstlerinnen erwartet hatten.

Die öffentliche Präsenz der wollenen Kunstwerke war von äußerst kurzer Dauer. Innerhalb weniger Tage fielen sie dem Dienst der Müllabfuhr im Auftrag gewissenhafter Lokalpolitiker zum Opfer. Nach anfänglicher Enttäuschung wissen die Strickistinnen längst gelassen damit umzugehen.

Künstlerische Öffentlichkeit

Der öffentliche Raum ist längst kein demokratischer Raum mehr, stellt Betina Aumair fest, Stück für Stück wird er als Trägerfläche von Werbeplakaten und Leuchtreklamen verkauft. Guerilla Knitting hat daher - wie Guerilla Gardening oder andere Guerilla-Art-Bewegungen - nicht viel mit aufständischer oder gar kriegerischer Auseinandersetzung zu tun. Es ist viel mehr Ausdruck einer eigenmächtigen "Rück"eroberung des öffentlichen Raumes mittels künstlerischer Aktionen.

Dass Stricken noch immer eine vorrangig weibliche Tätigkeit ist, dagegen können und wollen die Strickistinnen gar keine konkreten Maßnahmen setzen. Allein der Akt des Sichtbarmachens in der Öffentlichkeit scheint der textilen Handwerkskunst eine neue - auch männliche - Anhängerschaft zu bescheren.

Eigenes Label

Neben den bereits zur Institution gewordenen Strickrunden im Café Rüdigerhof betreiben die beiden ihr Modelabel "Umschlag" und vermarkten handgefärbte Wolle mit eigenen Farbkreationen - die Umschlagwolle. Stricktreffen und spezielle Events wie die jährliche Teilnahme am International Knit In Public Day werden über eigene Homepage, den "Umschlagplatz", und über Facebook organisiert. Das uralte Handwerk ist im 21. Jahrhundert angekommen und längst Teil der aktuellen, kreativen Do-it-yourself-Bewegung geworden. Der ehemals häuslichen Pflicht steht heute ein neues, unkonventionelles Selbstverständnis gegenüber - nicht grundlos, wie Vera Brlica findet.

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