Recherchen in Brüssel
Robert Menasse begegnet der Zukunft Europas
"Dieses Gebäude hat mein Leben verändert." Der Schriftsteller Robert Menasse ist einem Gebäude begegnet und war fasziniert. Nahezu täglich betrat Menasse in den vergangenen Monaten das Berlaymont-Gebäude, den Sitz der europäischen Kommission in Brüssel.
8. April 2017, 21:58
Hier wird daran gearbeitet, die Idee und in vielen Bereichen immer noch Utopie eines vereinten Europa in der Realität zu verwalten: "Alle stellen sich unter Beamten Menschen mit Ärmelschonern vor, die nichts arbeiten, nur absurde bürokratische Abläufe erfinden und meist durch Parteikontakte reingekommen sind", so Menasse. "Diese Vorstellung stimmt schon für Wiener Beamte nicht, auf keinen Fall stimmt sie aber hier"
Robert Menasse, Schriftsteller
Ich dachte immer, man muss die Demokratie verteidigen, (...). Jetzt frage ich mich, ob wir das, was wir unter Demokratie verstehen, nicht einfach entsorgen sollten.
Überwindung der Nationalstaaten
Robert Menasse hält sich derzeit immer wieder in Brüssel auf, um für sein nächstes Buch zu recherchieren - einem Roman, dem ein Gedanke zugrunde liegt: die Überwindung der Nationalstaaten. Diese haben sich, so Menasse, nicht zuletzt aufgrund des engstirnigen Denkens ihrer Repräsentanten im Lauf der Geschichte als menschenverachtend und zerstörerisch erwiesen. Eine Geisteshaltung übrigens, die der Dichter von einem weiteren Haus, unweit des Berlaymont-Gebäudes, verkörpert sieht: dem Justus-Lipsius-Gebäude gegenüber.
Hier befindet sich der Rat der Europäischen Union. Hier treffen einander die Repräsentanten der einzelnen Mitgliedsländer, um mit ihren Forderungen und jeweiligen Eigeninteressen gesamteuropäische Entwicklungen zu blockieren, so Robert Menasse. Hier regieren, wie es der recherchierende Schriftsteller formuliert, Eitelkeit, Egoismus und Chauvinismus.
Viel wohlwollender fällt da Menasses Blick auf das Berlaymont-Gebäude: "Das Berlaymont-Gebäude ist schlank und elegant, es spielt ästhetisch mit den Zeichen der Transparenz, es hat viel Glas und Schwung. Das Justus-Lipsius-Gebäude des europäischen Rats vis à vis schaut aus wie eine Ritterburg mit hochgezogenem Falltor, abweisend und erratisch, als hätte es was zu verteidigen, und da stimmt die Architektur auch wieder: Im Berlaymont-Gebäude wird versucht, ein neues Europa mit Schwung zu gestalten, in dem der Nationalstaat zurückgedrängt wird; und drüben im Rat wird der deutsche Finanzmarkt, London City oder die französische Grande Nation verteidigt. Wie in einer umzingelten Ritterburg wird hier eine alte Welt verteidigt."
Übergangszeit in eine neue Ära
Das Berlaymont-Gebäude hat Robert Menasses Leben tatsächlich verändert: Vor nicht allzu langer Zeit sah der wachsame Künstler in der Europäischen Union noch eine Gefahr für demokratische Grundsätze, heute denkt er anders, "weil ich begonnen habe, über Dinge nachzudenken, von denen ich kurz vorher nicht wagte, nachzudenken: Ich dachte immer, man muss die Demokratie verteidigen, ich hätte mich wo angekettet, um die Demokratie zu verteidigen. Jetzt frage ich mich, ob wir das, was wir unter Demokratie verstehen, nicht einfach entsorgen sollten. Man muss Demokratie neu erfinden, man muss die alte nationale Demokratie stoßen, damit sie fällt, damit der Platz frei wird für eine wirkliche und wahre europäische Demokratie."
Robert Menasse empfindet die Gegenwart als Übergangszeit in eine neue Ära, jene der übernationalen Demokratie: "Die Ursache der großen Verbrechen des 20.Jahrhunderts ist der Nationalismus. Seine Beseitigung, die Überwindung der Nationalstaaten, war bereits der Traum großer Dichter von Novalis bis Thomas Mann. Es ist unsere Aufgabe, endlich - im 21. Jahrhundert - das 19. Jahrhundert zu überwinden."
Ein "Gebäude meiner Zeitgenossenschaft"
Seine Begegnung mit dem Berlaymont-Gebäude spiegelt das Dasein im Hier und Jetzt, formuliert Robert Menasse poetisch: "Wenn man in den Vatikan, in den Petersdom, in die Sixtinische Kapelle kommt, hat man starke Emotionen, aber es handelt sich dabei um eine Begegnung mit Geschichte. Hier habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, ich begegne in der Begegnung mit einem Gebäude meiner Zeitgenossenschaft."
Ein aufgeblähter Beamtenapparat und ein unüberschaubares Regelsystem fernab der wahren Bedürfnisse und Lebensbedingungen der Bürger: Dieses weit verbreitete Bild von der EU und ihrer Verwaltung trifft, so Robert Menasse, auf die nationalen politischen Würdenträger im Rat zu, nicht aber auf die Beamten im Berlaymont-Gebäude. Die Begegnung mit diesem Bauwerk hat Menasse nicht nur die Welt hinter dessen Mauern eröffnet, sie hat ihn in die Welt der Beamten blicken lassen und ihm womöglich sogar eine Ahnung von der Zukunft Europas vermittelt.
"Das sind Menschen, die hochqualifiziert sind, hier wird man nicht Beamter durch Nepotismus, man macht einen Concours, eine Prüfung, bei der 30.000 Menschen aus ganz Europa antreten. Das sind Menschen, die keiner nationalen politischen Partei verpflichtet sind und keinen wirtschaftlichen Eliten, sondern ausschließlich dieser Idee, an einem vereinten freien, demokratischen Europa mit seiner ganzen regionalen Vielfalt zu arbeiten. Das sind Menschen, mit denen es auch berührend ist und intellektuell anregend, auf ein Bier zu gehen. Ein Gebäude hat mich hergebracht, Menschen habe ich kennengelernt."