Befreiung aus dem Paradies
Ruth Beckermann über Adam und Eva
"Ich stelle den Anspruch an Kunst, dass sie mich überrascht, dass mich, wenn ich durch ein Museum laufe, irgendetwas zum Stehen bewegt. Es muss in dem Moment für mich interessant sein." (Ruth Beckermann)
27. April 2017, 15:40
Überraschung durch Kunst
Mit ihrer Dokumentation "American Passages", die derzeit in den Kinos läuft, beweist die Filmemacherin, dass auch ihre eigene Kunst voller Überraschungen steckt: So gewährt Beckermann nicht nur tiefe Einblicke in Politik und Gesellschaft des von der Finanzkrise gebeutelten Landes, sondern darüber hinaus auch ungewöhnliche Ansichten des vielzitierten "amerikanischen Traums".
Der Moment der Überraschung durch die Kunst sei für sie wesentlich, sagt Ruth Beckermann. Diese Einsicht habe sie erstmals in den frühen 1990er Jahren gewonnen, als sie sich in Florenz aufhielt und von Freunden in die Florentiner Kirche Santa Maria del Carmine mitgenommen wurde. "Und zwar hab ich Masolino und Masaccio gesehen, und ich habe Adam und Eva gesehen. Die Kapelle stellt im Wesentlichen das Leben von Petrus dar, aber auf beiden Seiten Adam und Eva. Vom älteren, Masolino, sieht man Adam und Eva beim Baum der Erkenntnis stehen. Die Schlange hat ein blondes Frauengesichte, die beiden stehen unschlüssig da - schöne Menschen, aber noch unschuldig und irgendwie fahl oder kindlich".
Wie ausgewechselt erscheinen Adam und Eva indes auf dem zweiten Bild, das vom jüngeren der beiden Maler, Masaccio, stammt. "Plötzlich sieht man das gleiche Bild Adam und Eva nach der Vertreibung, der Apfel ist schon gegessen, vielleicht haben sie schon Sex gehabt, sie sind auf dem Weg ins Leben. Plötzlich ist die Renaissance entstanden."
Pionier der Malerei
Der toskanische Künstler Masaccio, ein Schüler des erwähnten Masolino, gilt als Pionier in der Malkunst: Er war der erste, der Anfang des 15. Jahrhunderts die von Brunelleschi entwickelte architektonische Linearperspektive auf das Zeichnen und Malen übertrug; der erste, der in seinen Bildern eine räumliche Wirkung entfaltete. Die plötzlich erfahrbare Tiefe des Raums macht, so Ruth Beckermann, auch eine neue Dimension der Gefühlstiefe erfahrbar: bei Masaccios Darstellung von Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies spürt man die ersten Gefühle von Freiheit. Und Freiheit bedeutet in der Kunst "alles", so Beckermann.
Der Moment der Freiheit ist neben der Überraschung ein weiteres zentrales Element in der Kunst wie auch im Leben, befindet Ruth Beckermann. Masaccio, (der übrigens blutjung ermordet wurde,) durchbrach die alten Denkmuster der Malkunst, und er konfrontierte Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies mit ihrer plötzlich erlangten Freiheit.
Freiheitsmomente heute
Die Darstellung in der Kirche Santa Maria del Carmine, zu der bis heute Scharen von Kunststudenten pilgern, um sie zu bewundern, inspirierte die Filmemacherin Beckermann wiederum zur Suche nach Freiheitsmomenten in der heutigen Zeit. So war sie etwa für ihren Film "American Passages" in der Wahlnacht, als Barack Obama zum Präsidenten gewählt wurde, mit der Kamera dabei. Die Wahl eines Schwarzen zum Präsidenten war für sie ein "unglaublicher Befreiungsmoment".
Die Freiheit war in Masacchios Darstellung von Adam und Eva mit Schmerzen verbunden. Für Ruth Beckermann sind Schmerzen kein Grund, ein Leben in Unfreiheit zu wählen, denn die Vertreibung aus dem Paradies kann in Wahrheit auch als Beginn des eigentlichen Lebens gelten.
In ihrem Film "American Passages" versucht Ruth Beckermann ebenfalls, alte Denkmuster zu durchbrechen. Ihre Dokumentation ist nicht wie ein gängiges Roadmovie strukturiert, bei dem man alle gezeigten Orte eindeutig identifizieren kann und der Reihe nach abfährt, so Beckermann, die Szenen sind vielmehr durch Assoziationen miteinander verknüpft und nicht von geografischen, sondern von emotionalen Verbindungslinien zusammengehalten. Das Ziel in Film und Leben heißt Erkenntnis.