Vorwurf: Putsch gegen Regierung Erdogan

Türkische Journalisten aus U-Haft entlassen

Ein türkisches Gericht hat die umstrittene einjährige Untersuchungshaft von vier wegen Verschwörung festgenommenen Journalisten beendet. Sie werden beschuldigt, Mitglieder eines nationalistischen Netzwerkes zu sein. Der als Ergenekon bezeichneten Verbindung wird vorgeworfen, einen Putsch gegen die islamisch-konservative Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geplant zu haben.

Mittagsjournal, 13.3.2012

Aus Istanbul,

Die türkische Regierung war in den letzten Monaten nicht nur als Modell für den Islamischen Frühling in den Schlagzeilen. Es hat auch immer wieder internationale Kritik an der Regierung von Recep Erdogan gegeben, weil in der Türkei Journalisten und Intellektuelle zunehmend unter Druck geraten sind. Prominentester Fall, an dem sich diese Kritik anzündet hat, waren vier Journalisten, die wegen ihrer Recherchen über geheime Netzwerke im türkischen Staat verhaftet und ein Jahr lang festgehalten wurden. Am Montag hat sie ein Istanbuler Richter nun frei gelassen.

"Werden Krieg fortsetzen"

Wenn couragierte Journalisten wie Ahmed Sik und Nedim Sener für ihre Arbeit ins Gefängnis müssen, dann könne es mit der Demokratie in der Türkei nicht sehr weit her sein. So oder so ähnlich wurde die Verhaftung der beiden prominenten Aufdecker im Inland wie im Ausland gewertet. Entsprechend überrascht war die türkische Öffentlichkeit, als die beiden nach 375 Tagen Haft nun doch freigelassen wurden. Noch dazu zeigen sich beide fest entschlossen, ihre Kritik an den versteckten Machtzentren des Landes unvermindert fortzusetzen: „Ich sage heute dasselbe, was ich am Tag meiner Verhaftung gesagt habe,“ ist Ahmed Siks erste Reaktion. „Wer sich mit diesen Leuten anlegt, der verbrennt. Aber wenn das eine Art Krieg sein sollte, so werde ich diesen Krieg fortsetzen!“

Mächtiges Islamistennetzwerk

Wenn Ahmed Sik von den Leuten spricht, die ihn hinter Gitter gebracht haben, dann meint er ein Netzwerk von Islamisten, das in den letzten Jahren Polizei und Justiz unterwandert hat. Jahrelang haben Ahmed Sik und sein Freund Nedim Sener die Querverbindungen von Geheimdiensten, Militär, Polizei und Unterwelt untersucht. Ein mächtiges Geflecht, das seit den späten Siebziger Jahren die Ermordung von hunderten, wenn nicht tausenden Menschen auf dem Gewissen haben soll.

In den letzten 10 Jahren hat sich die Macht im Staat allerdings deutlich zu den Islamisten verschoben. Mit ihrer Hilfe ist die Polizei immer stärker geworden und hat das früher alles beherrschende Militär zunehmend an den Rand gedrängt.

Belastung für Erdogan

Für die Verhaftung von Ahmed Sik und Nedim Sener
wurde das Zusammenspiel von islamistischer Polizei und islamistischer Justiz verantwortlich gemacht. Dass die beiden prominenten Journalisten nun doch Frei gelassen wurden, könnte mit einem Tauziehen zwischen verschiedenen Strömungen innerhalb des islamischen Lagers zusammenhängen. Für die Regierung von Recep Erdogan war es zunehmend zur Belastung geworden, dass europäische und amerikanische Politiker sie immer wieder auf den Fall angesprochen hat.

Viele noch in Haft

Doch auch wenn gestern vier Journalisten frei gekommen sind, - so bleiben beinahe hundert weiter in Haft. Auch das hat Ahmed Sik gestern angesprochen. Hundert Journalisten, etwa 600 Studenten seien weiter aus politischen Gründen im Gefängnis, sagt Sik. Dazu kämen etwa 6.000, die als Sympathisanten der kurdischen PKK verhaftet wurden. Sie alle sollten nicht vergessen werden.

In jedem Fall wird die Freilassung von Sik und Sener der türkischen Zivilgesellschaft neuen Auftrieb geben. Und vielleicht auch dazu beitragen, dass die Türkei sich den politischen Verbrechen ihrer Geschichte stellen kann.