Gegen die gesellschaftliche Isolation
Hausbesuche bei Migranten
Wie kann man erreichen, dass sich Migranten, die zwar mitten in Österreich, aber völlig abgeschottet von der Gesellschaft leben, besser integrieren? Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz (ÖVP) will Hausbesuche bei solchen Migrantenfamilien forcieren. Auch die oft völlig isolierten Mütter sollen davon profitieren.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 3.4.2012
Migranten besuchen Migranten
Rund 1,5 Millionen Menschen in Österreich haben Migrationshintergrund. Die meisten von ihnen sind integriert, gehen in die Schule, machen eine Ausbildung oder gehen arbeiten. Ein Teil aber, die genaue Zahl lässt sich nicht feststellen, lebt von der Gesellschaft isoliert. Meist sind es Frauen, die zu Hause sind, und deren kleine Kinder. Ein Gutteil von ihnen hat türkischen Migrationshintergrund. An sie richtet sich das Hausbesuchsprogramm, das Integrationsstaatssekretär Kurz nun ausbauen will: "Es werden Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren zu Hause besucht von Frauen, die selbst Migrationshintergrund haben. Mit diesen Kindern wird die Sprache gelernt, motorische Fähigkeiten geschult, der Schuleintritt vorbereitet. Und es hat den positiven Nebeneffekt, dass die Mütter, die sich verpflichten, das Programm jeden Tag mit den Kindern zu wiederholen, Deutsch lernen und erstmals Anschluss an die Mehrheitsbevölkerung finden."
Mundpropaganda im Park
In den Familien soll so neben Deutschkenntnissen auch ein Bewusstsein für Bildung geschaffen werden. Einmal in der Woche sollen die Familien besucht werden, und zwar von Frauen, die den gleichen Migrationshintergrund haben. Oft haben die Trainerinnen selbst zuvor am Programm als Besuchte teilgenommen, so Staatssekretär Sebastian Kurz. Sie sollen möglichst viele von den nicht-integrierten Familien erreichen, sagt Kurz. Und das heißt, "dass die Trainerinnen in Parks, im öffentlichen Raum, durch Mundpropaganda an diese Familien herankommen, die wir mit herkömmlichen Integrationsmaßnahmen oder mit Deutschkursen gar nicht erreichen können."
Wiener Projekt geprüft
Geschult werden die Trainerinnen von den Vereinen, die das Hausbesuchsprogramm organisieren, z.B. vom Verein Alpha Nova, dem Verein Menschen.Leben oder dem Katholischen Bildungswerk Kärnten. In Wien gibt es seit ein paar Jahren ein solches Projekt, das habe man nun geprüft und für überzeugend befunden, so Kurz: "weil es das einzige Programm ist, mit dem wir an Familien herankommen, die wir sonst gar nicht mehr erreichen."
"Großer Bedarf"
Kurz will das Programm, das es in ähnlicher Form auch in den USA, Kanada, Israel und Deutschland gibt, heuer auf 18 Standorte in Österreich ausweiten. In Wien soll es das Programm in einigen Bezirken geben, außerdem auch in einigen Städten und Gemeinden in Niederösterreich, Salzburg, Tirol, Kärnten und der Steiermark. Kurz: "An diesen 18 Standorten besteht großer Bedarf."
300.000 Euro kostet das Programm im Jahr. Zwei Drittel davon übernimmt das Integrationsstaatssekretariat, ein Drittel übernehmen die Trägervereine. (Text: Monika Feldner-Zimmermann)
Morgenjournal, 3.4.2012
Politikwissenschaftler Bernhard Perchinig im Gespräch mit Hubert Arnim-Ellissen
Experte: Wichtige Maßnahme
Das Konzept des Staatssekretärs sei "wichtig und richtig" - in einem gesamten Spektrum von Integrationsmaßnahmen, sagt der Politikwissenschaftler Bernhard Perchinig. Er hat sich mit den Anforderungen der Integration beschäftigt und für das Justizministerium vor vier Jahren die Grundlagen einer künftigen Integrationspolitik skizziert. Ein Vorbild für das Kurz-Konzept ist das in Israel entwickelte "HIPPY"-Modell: Die Abkürzung steht für "Home Instruction For Parents of Pre-School-Youngsters", einem Trainingsprogramm für Mütter, die mit ihren vier- bis sechsjährigen Kindern zu Hause kognitive Fähigkeiten üben.
Kein Ersatz für professionelle Betreuung
Perchinig hebt allerdings hervor, dass derartige Programme nicht nur für Migranten gedacht waren, sondern generell bildungsbenachteiligte Familien ansprechen sollten. Die Betreuer und Betreuerinnen müssten auch professionell geschult werden, betont der Experte. Man müsse weiters auch strukturelle Änderungen in Schulen und Kindergärten andenken. Derartige Programme dürften außerdem kein Ersatz für professionelle Sozialpädagogik sein, sondern könnten nur eine durchaus sinnvolle Ergänzung sein.