Juli Zeh taucht ein

Nullzeit

Die deutsche Autorin Juli Zeh war bislang nicht unbedingt als Lieferantin leichter literarischer Kost bekannt. Im Vordergrund ihrer Romane schnurrt die Handlung oft glatt und perfektionistisch ab, im Hintergrund aber eröffnen sich verstörende Fragen, die an Grundlagen rühren.

Paradoxien der Rechtsphilosophie beispielsweise handelte Zeh, die gelernte Juristin, bereits in ihren Debütroman "Adler und Engel" (2001) und später dann nochmals in dem Buch "Spieltrieb" (2004) ab. An den Grundlagen unseres physikalischen Weltbildes rührte sie mit dem Roman "Schilf" (2007), auch das ein Buch, das weit mehr ist als nur ein Krimi.

Bei der Kritik erwarb sich Zeh mit der Komplexität ihres Schreibens einen eher zweifelhaften Ruf: In Rezensionen ihrer Bücher ist oft von einem gewissen Übermaß die Rede und von zu hohen Ansprüchen, die die Autorin an ihre Leserschaft stellt. Diese aber schien davon bislang eher ungerührt, die hohen Absatzzahlen von Zehs Büchern sprechen für sich.

Ideale Ferieninsel

Zugänglich in einem ganz unmittelbaren Sinn - und dabei nicht frei von Hintersinn - ist auch der neue Roman der Autorin. Das Buch nennt sich "Nullzeit", und ich empfehle es als ein Urlaubsbuch für den Strand. Gleich zu Beginn werden wir in eine ideale Feriengegend versetzt: eine kleine Insel vor Afrikas Küste, auf der ein Auswanderer aus Deutschland mit dem schönen Namen Sven gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Antje eine exklusive Tauchschule betreibt.

Zu Beginn des Buches erwartet Sven auf dem Flughafen zwei illustre Gäste, die für eine Woche Intensivbetreuung ganze 14.000 Euro zu zahlen bereit sind: die Schauspielerin Jola von der Palen, die in einer deutschen Fernsehsoap als "Bela Schweig" glänzt, sowie ihren langjähriger Begleiter, den vergleichsweise erfolglosen Schriftsteller Theodor Hast. Einen sprechenden Nachnamen hat auch Sven. Er heißt Fiedler, wahrscheinlich deshalb, weil er zu vertrauensselig ist.

Woher Sven seine beiden Gäste einzuschätzen weiß? Blöde Frage: Er tut, was wir in solchen Fällen alle tun und googelt die Namen im Netz. Jola von der Palen: 384.000 Treffer, zahlreiche Fanseiten, vermögender einflussreicher Vater in der Filmbranche. Theodor Hast hingegen weist lediglich läppische 12.400 Treffer auf, und auch davon verdanken sich die meisten einzig und allein der Beziehung zu dieser Frau.

Nagelprobe unter Wasser

Während der Schriftsteller, offenkundig ein Versager, sich nur langsam aus dem Anzug schält, und die Schauspielerin ihr iPhone auch in den nächsten Tage nicht aus den Augen lassen wird, bietet die Insel ringsum eine einzige Idylle: Spektakulär liegt das Gästehaus über einer Bucht, zum Hummeressen geht es in ein verstecktes Lokal, zu Hause bereitet Antje unterdessen ein aufwendiges Sorbet aus Kaktusfeigen - einige Tage danach geht es zu einer Party auf ein wunderbares Schiff im Hafen, mit bundesdeutscher B-Prominenz, nun ja.

Ihre Nagelprobe erleben die beiden Paare (Antje und Sven, Jola und Theo) unter Wasser. Von daher kommt auch der Titel von Zehs Buch: "Nullzeit" ist nämlich zunächst keine poetische Metapher, sondern einfach nur ein Begriff aus der Tauchtheorie. Er meint die Zeit, die man ohne Kompressionsausgleich maximal unter Wasser bleiben kann.

Für Jola hat der Einstieg in die Unterwasserwelt vorgeblich einen beruflichen Grund, bereitet sie sich doch auf die Rolle der Lotte Hass in einem Film vor (sie wird sie, so viel darf man verraten, nicht kriegen). Theo, der an Land oft so unbeholfen wirkende Mann, verhält sich unter Wasser wesentlich ruhiger und geschickter als sie. Sven schließlich ist Tauch-Profi, der unter Wasser alles weiß und alles kann. Sein privates Ziel, das er schließlich mit seinen Gästen teilen wird, ist die Erkundung eines Schiffswracks in mehr als hundert Metern Tiefe. Ein gefährliches Unternehmen, das er für seinen 40. Geburtstag plant.

Eine Sache der Interpretation

Antje ist aus der Sache bald raus, wahrscheinlich auch deshalb, weil sie partout nicht unter Wasser gehen will. Zwischen Sven und Jola indes entspinnt sich, von Theo nicht allein geduldet, sondern geradezu provoziert, bald eine heiße Liebesgeschichte. Zumindest für diese beiden könnte auf diese Weise alles in schönste Ordnung kommen, tut es aber nicht.

Starkes Misstrauen - nicht allein gegen dieses Glück - erregt in Zehs Buch Jolas Tagebuch, das in den von Sven stammenden Haupttext montiert ist. Viele Begebenheiten, von denen Sven berichtet, stellen sich in diesen Aufzeichnungen anfangs anders und später geradezu konträr dar. Wie es wirklich gewesen ist und wem man trauen kann, wird zusehends eine Sache der Interpretation, die Zeh nun aber allein dem Leser überlässt.

Lebensnotwendige Pausen

Am Ende des Buches ist Theo halb tot und man weiß nicht recht, wie es dazu gekommen ist. Das schönste Bild aus "Nullzeit" zeigt Sven beim Auftauchen vom Wrack. Lange Pausen der Dekompression sind in unterschiedlichen Tiefen nötig, um den Tauchgang ohne körperlichen Schaden zu überstehen. Knapp drei Meter unter der Oberfläche legt Sven eine letzte lange und dabei überlebensnotwendige Pause ein. An diesem unwirklichen Ort gefangen, sieht er, was oben auf dem Beiboot geschieht. Ohne Chance einzugreifen oder zu helfen: wie ein versunkener Zeuge im Meer, der seine eigene Nullzeit überschritten hat. Das ist ein tolles Bild der Interpassivität; man wird es sich ewig merken.

Service

Juli Zeh, "Nullzeit", Schöffling & Co

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