43.000 Kinder, die ihre Eltern pflegen

Das Thema Pflege wird in unserer Gesellschaft immer wichtiger. Doch so gut wie kein Thema sind bisher pflegende Kinder, also Kinder, die ihre chronisch kranken Familienangehörigen betreuen. Dabei ist dieses Phänomen viel größer als bisher angenommen, zeigt eine Studie des Instituts für Pflegewissenschaften.

Morgenjournal, 21.12.2012

Weitaus mehr als angenommen

Ob kochen, putzen oder Medikamente verabreichen, ob Hilfe beim Waschen, Anziehen oder Aufsetzen - wenn Eltern krank sind und den Alltag nicht mehr allein bewältigen können, müssen sehr oft die Kinder einspringen. Bisher sind Experten davon ausgegangen, dass es rund 20.000 pflegende Kinder in Österreich gibt. Doch jetzt belegt die erste wissenschaftliche Studie zu dem Thema, dass es deutlich mehr sind, nämlich 42.700 oder 3,5 Prozent aller fünf bis 18-Jährigen, sagt Studienleiter Martin Nagl-Cupal vom Institut für Pflegewissenschaften der Universität Wien.

Belastung und Bereicherung

Für die Studie im Auftrag des Sozialministeriums sind über 7.400 Kinder und Jugendliche befragt worden. Die Betroffenen pflegen demnach am häufigsten ihre Mutter, gefolgt vom Vater und anderen Familienmitgliedern. Sie sind dabei mit Krankheiten wie Krebs, Muskelschwund oder Epilepsie ebenso konfrontiert wie mit Alkoholsucht oder psychischen Problemen - und die Belastung durch die Pflege macht sie oft selbst krank. "Wir sehen deutlich, dass die Auswirkungen auf körperlicher Ebene, wie Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen sehr viel häufiger bei pflegenden Kindern vorkommen als bei nicht pflegenden Kindern. Wir sehen, dass sie sich viel häufiger Sorgen machen und dass sie viel häufiger traurig sind. Dass diese Kinder weniger Zeit mit Freunden verbringen können, dass sie häufiger alleine sind. Wir sehen aber nicht ausschließlich negative Auswirkungen. Beispielsweise fühlen sich pflegende Kinder im Vergleich zu nicht pflegenden Kindern dem Leben sehr oft besser gewachsen."

Kein Thema in der Gesellschaft

Das durchschnittliche Alter der pflegenden Kinder liegt bei zwölfeinhalb Jahren. Ein Großteil von ihnen, nämlich knapp 70 Prozent, sind weiblich, und die Betroffenen werden in ihrer Situation bisher kaum wahrgenommen, sagt Studienautor Martin Nagl-Cupal: "Pflegende Kinder sind in der österreichischen Gesellschaft überhaupt kein Thema. Weder die Gesellschaft als solche noch die professionellen Pfleger oder andere, die sich in ihrer täglichen Arbeit auf Kinder beziehen, seien es Pädagoginnen, Pädagogen, Ärzte oder andere Gruppen, denen ist dieses Thema überhaupt nicht vertraut."

Bewusstsein und neue Einrichtungen

Eine der zentralen Empfehlungen aus der Studie ist deshalb, erstmals ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen. Außerdem, so Nagl-Cupal, brauchen die betroffenen Kinder auch ganz praktisch und niederschwellig Unterstützung im Alltag. Notwendig seien auch spezifische Angebote, die es bisher nicht gibt: "Es braucht Einrichtungen, wo sie sich mit Gleichgesinnten treffen können, wo sie aber auch Erwachsene treffen, die sie beraten, mit denen sie reden können." Einrichtungen, so der Experte, wo die Betroffenen ihre pflegerische Verantwortung zumindest kurz beiseiteschieben und einfach nur Kind sein können.

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