Erinnerungen von Marek Edelman
Die Liebe im Ghetto
Im Warschauer Ghetto wurden 500.000 Juden gemartert. Umso erstaunlicher ist es, dass Marek Edelman, einer der Anführer des jüdischen Widerstands von 1943, auch von bewegenden Momenten der Liebe mitten im Grauen berichten kann.
8. April 2017, 21:58
Der Aufstand
Marek Edelman war 20 Jahre alt, als deutsche Soldaten sein Heimatland Polen besetzten. Das war am 1. September 1939. In Warschau richteten die deutschen Behörden ein Sammellager für polnische und deutsche Juden ein, das Warschauer Ghetto. Es diente hauptsächlich als Sammellager für die Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka und war als solches Teil der organisierten Massenvernichtung.
Genau vor 70 Jahren, am 19. April 1943, brach im Warschauer Ghetto ein Aufstand los. Einer der Kommandeure war Marek Edelman. Er konnte nach der Niederschlagung entkommen und kämpfte später beim Warschauer Aufstand auf der Seite der Polen gegen Hitlers Armee.
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Im April 1942 fuhren die Deutschen eines Nachts überraschend ins Ghetto hinein und holten 52 Personen aus ihren Wohnungen, um sie alle sofort in den Hauseingängen zu erschießen. Das war der Anfang der Terroraktion. Dann, bis zum Beginn der großen Aktion am 22. Juli, tauchten die Deutschen regelmäßig nachts auf, holten einzelne Personen aus den Häusern und töteten sie. Ihre Wohnungen versiegelten sie, und die Leichen ließen sie entweder in den geöffneten Eingangstoren oder auf der Straße liegen. Die Getöteten waren in der Regel Menschen mit bedeutenden Namen, sie gehörten zur Elite des Ghettos.
Im April 1943 begann der Aufstand. Knapp einen Monat dauerte der Kampf von Marek Edelmann und seinen Gefährten gegen die deutsche Übermacht, bis die Rebellion von SS-Truppen niedergeschlagen wurde. Im Mai 1943 verließ Edelman das Warschauer Ghetto mit den restlichen Widerstandkämpfern durch die Kanalisation. Seine Aufzeichnungen über die Kämpfe und die Beteiligung des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes veröffentliche er bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter dem Titel "Das Ghetto kämpft". Nun sind mit "Die Liebe im Ghetto" weitere Erinnerungen Edelmans erschienen, aufgezeichnet von einer Freundin, der Autorin Paula Sawicka.
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Ich hatte sowohl das Glück, Marek Edelman auf seinem Weg zu begegnen, als auch, dass er mich seiner Freundschaft und seines Vertrauens für würdig hielt. Über ein Vierteljahrhundert erzählte er mir von der Vergangenheit. Ich habe miterlebt, wie er Fragen von Menschen beantwortete, die auf den Bericht eines Zeitzeugen neugierig waren. Wenn sie wieder gegangen waren, sagte er immer wieder: "Warum fragt mich niemand, ob es im Ghetto Liebe gab? Warum interessiert das niemanden? Nur sie hat es uns ermöglicht weiterzuleben."
Mit den Kindern sterben
Marek Edelmann berichtet von den Kämpfen im Ghetto, vom Aufstand der polnischen Heimatarmee gegen die deutschen Besatzer, vor allem aber vom Alltag im Ghetto. In 14 Kapiteln hat Paula Sawicka die teilweise bruchstückhaften Erinnerungen Edelmans zusammengefasst. Selbst unter den schlimmsten Bedingungen war die Hingabe und Verbundenheit der Menschen im Ghetto nicht zu vernichten. Das zeigt etwa die Geschichte von Roza Ejchner und Hendusia Himelfarb, zwei Erzieherinnen in einem Sanatorium für tuberkulosekranke Kinder. Im Rahmen der Terroraktion verlegten die Nationalsozialisten alle Kinder aus dem Sanatorium ins Warschauer Ghetto. Am folgenden Tag wurden sie in das Vernichtungslager Treblinka abtransportiert.
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Sie hatte ein helles Gesicht und dicke blonde Zöpfe. Normalerweise steckte sie sie auf dem Kopf zu einem Kranz zusammen, jetzt fielen sie lose herab. "Komm, Hendusia", rief ich ihr zu. "Es gibt einen Weg hier raus für solche wie dich. Morgen kommst du auf die arische Seite." Uns trennten der Bürgersteig und die umzäunte Grünanlage. "Ich habe hier hundertfünfzig Kinder, ich werde sie doch nicht zurücklassen. Sie können nicht alleine in die Waggons auf diese Reise gehen", rief sie mir aus dem Kellergeschoßfenster über den ganzen Bürgersteig entgegen. (...)
Nur Hendusia und Roza sind mit den Kindern nach Warschau und dann weiter auf ihre letzte Reise gegangen. Hendusia hätte rauskommen, überleben und sich retten können, doch sie wollte nicht, dass die Kinder Angst haben und weinen. Sie blieb bei ihnen, dabei wusste sie, was passieren würde. War es aus einem Verantwortungsgefühl oder aus Liebe zu ihnen? Damals war das dasselbe.
Episodenerzählungen
Marek Edelman verschafft vielen seiner Weggefährten - den Kämpfenden und Liebenden - kurze, aber beeindruckende Auftritte. Eine durchgängige Erzählung darf man sich von "Die Liebe im Ghetto" jedoch nicht erwarten. Vieles bleibt nur angerissen, einige Episoden am Ende offen. Ein historischer Kommentar wäre an vielen Stellen sicher hilfreich, um das Erzählte in einen geschichtlichen Kontext einordnen zu können. Die erschütternden Begebenheiten, die Marek Edelman in diesem Buch erzählt hat, stehen oft alleine, sprechen aber dennoch für sich.
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Gegen sechs Uhr früh drangen die ersten Schüsse aus dem Zentralghetto zu uns. Wir erkannten die Granatexplosionen; das war unsere Granate - das ihre, unsere - ihre. Später habe ich erfahren, dass es der Widerhall des Kampfes an der Kreuzung der Straßen Zamenhofa und Mila gewesen war. Wir griffen von vier Seiten an. Das zog sich hin. Plötzlich drang das Heulen des Rettungswagens zu uns. Dann setzte Stille ein.
Marek Edelman thematisierte in seinen Gesprächen mit Paula Sawicka durchaus, dass es sich um seinen subjektiven Blick auf die Geschichte handelt und nicht um eine historische Wahrheit. "Muss man die Erinnerung durch den Filter des heutigen Wissens fließen lassen?" Eine Frage, die nicht nur Marek Edelman beschäftigte. Sie wird heute in der Geschichtsforschung im Zusammenhang mit Zeitzeugen immer wieder gestellt. Auch deswegen hat Marek Edelman seine Erinnerungen lange für sich behalten. Erst 2008 hat er sich dazu entschlossen, sein Wissen und seinen Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus für nachfolgende Generationen festzuhalten. Und so resümiert der Widerstandskämpfer kurz vor seinem Tod selbstkritisch:
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Das, was ich niedergeschrieben habe, ist vielleicht ohne Sinn und Verstand, doch das sind einzig meine Erinnerungsfetzen.
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Marek Edelman, "Die Liebe im Ghetto", aufgeschrieben und mit einem Vorwort von Paula Sawicka, aus dem Polnischen übersetzt von Joanna Manc, Schöffling Verlag
Schöffling Verlag