Deutsche Kritik: Arm trotz Arbeit
Deutschland gilt mit einer relativ niedrigen Arbeitslosigkeit - ähnlich wie Österreich - als eines der Erfolgsmodelle in Zeiten der Krise. Die deutsche Arbeitsmarktpolitik habe aber auch viele Schattenseiten, sagt die deutsche Sozialrechtlerin Helga Spindler. Immer weniger Menschen in Deutschland könnten von ihrer Arbeit auch leben.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 29.4.2013
Leistung gleich, auf mehr verteilt
Helga Spindler will über die Arbeitslosenquote gar nicht reden. Sie sagt nämlich ihrer Meinung nach nicht viel aus. Denn wer nicht offiziell als arbeitssuchend gemeldet ist oder von der Arbeitsagentur gesperrt wird, fällt aus der Statistik raus. Mehr sage da schon die Zahl der Beschäftigten aus und die bezahlten Arbeitsstunden: In Deutschland gebe es derzeit 58 Milliarden bezahlte Arbeitsstunden - das habe es vor 20 Jahren auch schon gegeben - "ohne die ganzen Reformen, und bei viel mehr Vollzeitbeschäftigten, die davon wirklich leben konnten", so Spindler.
Viele, die Teilzeit arbeiten, würden das nicht freiwillig tun und könnten davon kaum leben. Außerdem ist der Anteil der "Solo-Selbständigen" stark gestiegen, ein Drittel davon verdient nicht viel mehr als die Existenzgrundlage.
Zentrale Reform am deutschen Arbeitsmarkt war "Hartz 4", die Zusammenführung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. "Zumutbarkeit" ist dadurch ein zentraler Begriff geworden. Wer einen "zumutbaren" Job nicht annimmt, dem droht die Streichung.
Angst vor Abrutschen
Der Konkurrenzkampf sei hart, sagt Helga Spindler. Vor allem bei den Menschen, die ohnehin wenig haben: "Das ist eine Neidbewegung nach unten. Sie haben dann Wut auf diejenigen, die ihrer Meinung nach nicht mehr genug leisten müssen und sogar mehr haben als sie mit ihrer täglichen Anstrengung. Und wenn es gelngt, diese beiden Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzuhetzen, dann kann man bei den Schwächsten, denen die überhaupt nicht in Arbeit sind, eine Kürzung nach der anderen durchführen. Die Mittelschichten haben fürchterliche Angst, in dieses System abzurutschen. Und diese Spaltung führt dann dazu, dass man den Nicht-Arbeitenden immer schlechter stellen kann, weil kein anderer da ist, der sich drum kümmert. "
Dass die Reform auf dem Arbeitsmarkt nicht ganz so radikal ist wie etwa in Großbritannien, wo das Arbeitslosengeld extrem niedrig ist, führt die Sozialrechtlerin auf das System des Wohlfahrtsstaates zurück, das in Deutschland viel ausgeprägter ist - so wie in Österreich auch.