Ausschreitungen in Istanbul
Aus der Türkei kommen zurzeit widersprüchliche Signale. Einerseits hat Ministerpräsident Erdogan damit begonnen, den jahrzehntelangen blutigen Konflikt mit der kurdischen Minderheit auf friedliche und demokratische Art zu lösen. Andererseits wurde die Innenstadt von Istanbul gestern abgeriegelt und teilweise in Tränengas gehüllt, um den Mai-Aufmarsch der türkischen Arbeiter zu verhindern.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 2.5.2013
Festung Istanbul
So als ginge es darum einen gefährlichen Feind abzuwehren, wurde Istanbuls Zentrum gestern zur Festung ausgebaut. Zwanzigtausend
Polizisten waren aufgeboten, um den Gewerkschaften den Zugang zum Taksim-Platz zu verwehren. Wer trotzdem näherkam, wurde mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen. Als einige Mai-Demonstranten mit Fahnenstangen und Steinen zurückschlugen, kam es zu wilden Kampfszenen.
Dabei hatten sich die Gewerkschaften erst vor wenigen Jahren das Recht erstritten, den Tag der Arbeit wieder an ihrem traditionellen
Versammlungsort zu begehen. Während der letzten Militärdiktatur und in den darauf folgenden Jahren waren Mai-Kundgebungen auf dem
Taksim-Platz verboten gewesen. Die Zerschlagung der Gewerkschaften durch die Militärs stand am
Anfang des so genannten türkischen Wirtschaftswunders. Als Niedriglohnland mit einem ständigen Zustrom an ungelernten Arbeitskräften
aus Anatolien konnte die Türkei ausländische Investoren anlocken.
Viele Verletzte
Heute spielen die Militärs keine politische Rolle mehr. Doch der Druck auf die Arbeiterschaft ist geblieben. Ob bei ausländischen Konzernen, im Öffentlichen Dienst oder in staatsnahen Betrieben – die Teilnahme an Streiks ist meist ein automatischer Entlassungsgrund, wie unlängst bei der Fluglinie Turkish Airlines.
All das hätte gestern Thema der Kundgebung sein sollen. Doch nur der regierungsnahe Gewerkschaftsverband „Hak-Is“ durfte sich dem
Taksim-Platz nähern. Alle Anderen wurden wie Extremisten behandelt und von den offiziellen
Medien auch als solche bezeichnet. Auch eine Gruppe von Frauenrechtlerinnen, die abwartend am Straßenrand stand, wurde mit Wasserwerfern auseinandergetrieben. Einem protestierenden
sozialdemokratischen Politiker wurde Tränengas direkt ins Gesicht gesprüht.
Eine 17-jährige Schülerin wurde nach Angaben zahlreicher Augenzeugen von einem geworfenen Gaskanister am Kopf getroffen und befindet sich in Lebensgefahr. Laut Polizeibericht soll sie über eine Treppe gestolpert sein. Insgesamt mussten mindestens 16 Menschen ins Krankenhaus, darunter auch einige Polizisten.
Dass sich unter die Gewerkschafter auch kleine gewaltbereite Gruppen gemischt haben, ist an einigen Bildern zu sehen, die türkische Fernsehkameras eingefangen haben. Doch ebenso deutlich ist dokumentiert, dass die Polizei gegen friedliche Demonstranten mit der gleichen Härte vorgegangen ist.
Die türkische Regierung gibt den Demonstranten die Schuld an der Eskalation. Der Taksim-Platz sei nur wegen der dortigen Bauarbeiten gesperrt gewesen. Das hätten die Gewerkschaften aber nicht eingesehen.