Proteste in der Türkei - Die "andere Seite"

Seit drei Wochen toben in der Türkei die Kämpfe zwischen den Sicherheitskräften und Regierungsgegnern. Zehntausende gehen auf die Strasse, auch um gegen die Einschränkungen ihres Lebensstils zu kämpfen. Der konservativ-islamische Regierungspartei AKP werfen sie vor, das Land islamisieren zu wollen. Doch es gibt auch viele in der Türkei die das genau richtig finden. Und diese Menschen sind nicht nur in Anatolien, sondern auch mitten in Istanbul.

Mittagsjournal, 19.6.2013

Aus Istanbul,

Wut bei Erdogan-Anhängern

Wer hier im Istanbuler Bezirk „Kasimpasa“ das sagen hat ist klar: aber nicht nur akustisch. Denn über der Hauptstraße hängt ein Transparent der Regierungspartei AKP. An vielen Geschäften sind Plakate mit dem Bild von Regierungschef Erdogan angebracht. Kein Wunder – in diesem Bezirk Istanbuls ist er aufgewachsen – hier hat er viele Anhänger. Auch wenn der Taksim Platz nur 10 Fahrminuten entfernt ist liegen doch Welten zwischen den beiden Stadtteilen. Hier sind viele Frauen verschleiert. In den Lokalen wird hauptsächlich Tee getrunken.

Auch hier in einem Straßenrestaurant gleich neben der Moschee. Fast Klischeehaft sitzen hier nur Männer. Sie unterhalten sich angeregt. Warum sie mit einem Ausländer – also mir – über türkische Politik sprechen sollen erschließt sich ihnen nicht. Warum kümmern sich ausländische Sender um die Türkei – Die sollen sich um das eigene Land kümmern.

Nach einer kleinen Aufwärmphase zum Kennenlernen wollen die Herren dann doch etwas sagen. Denn auch bei Ihnen hat sich die Wut aufgestaut: Wieso mischt sich Europa überhaupt ein? Wirtschaftlich geht es Europa nicht gut. Es gibt auch keinen Familienzusammenhalt. Und deshalb beneidet Europa die Türkei. Europa möchte Erdogan nicht. Damit die Türkei geschwächt wird. Das ist Imperialismus.

Und auch hier gibt es die Europäische Paradehassfigur: Angela Merkel: Die Merkel soll sich um die eigenen lügenden Türken kümmern. Und überhaupt: Wir wollen keine Europäer hier. Wir wollen keine Hitler-Denkweise.

Für die Männer hier im Lokal könnte Ministerpräsident Erdogan noch viel härter gegen die Demonstranten durchgreifen. Die abenteuerlustigen Jugendlichen schlafenunter Brücke, haben kein Geld, eine Freundin im Arm und das Bier in der Hand und dann am Abend wenn sie vollgedröhnt sind greifen sie die Regierung an. Wenn sie fragen warum, das sind Kommunisten die sich vom Islam gestört fühlen. Die Mehrheit des Landes sei auf ihrer Seite.

Und das stimmt – zumindest wenn man sich hier in der Türkei die veröffentlichte Meinung ansieht – also was die Medien berichten. Viele stehen unter direkter Kontrolle der Regierung. Andere werden mit Busgeldern belegt weil sie angeblich das Volk aufwühlen. Oder es gibt von den staatsnahen Unternehmen keine Werbung mehr. Wie die Stimmungslage genau ist, ist schwer zu beurteilen. Eine aktuelle Meinungsumfrage zeigt, dass die regierende AKP nur mehr 35 Prozent Zustimmung unter der Wählerschaft hat.
Hier im Bezirk „Kasimpasa“ ist es sicher mehr.

Und hier will man auch jene Geschichten glauben die seit Tagen verbreitet werden: Dass jugendliche am vergangenen Wochenende Moscheen mit Bierflaschen quasi geschändet hätten: Ihr Jugendlichen habt Bierflaschen in die Moschee gestellt. Ihr verspottet den Islam.

Doch auch in dieser AKP Hochburg zeigt sich, dass das Land gespalten ist. Denn in so manchem Fenster findet sich auch hier die Türkische Fahne mit dem Portrait vom Mustafa Kemal Atatürk.