Ukraine vor Zerreißprobe: Kämpfe vor Referendum

Unmittelbar vor dem umstrittenen Separatisten-Referendum im Osten der Ukraine stürzen neue Kämpfe das Land tiefer in die Krise. Der russische Präsident Wladimir Putin provoziert zugleich mit einem Besuch auf der annektierten Schwarzmeerhalbinsel Krim. Polens Präsident Bronislaw Komorowski fordert von der deutschen Regierung eine entschiedenere Haltung gegenüber Moskau.

Brennende Polizeistation

(c) Furman, EPA

Morgenjournal, 10.5.2014

Aus Donezk,

In der Ostukraine droht die Abspaltung, während die Kämpfe wieder aufgeflammt sind. Die prorussischen Separatisten wollen in den Bezirken Donezk und Lugansk morgen die eine sogenannte Volksabstimmung über die Abspaltung von der Ukraine durchführen. Man muss von einer "sogenannten" Volksabstimmung sprechen, weil die rechtstaatlichen und demokratischen Standards für das Referendum in keiner Weise gegeben sind. Hinzu kommt, dass die Gefechte zwischen ukrainischen Verbänden und Separatisten wieder intensiver geworden sind und mehrere Menschenleben gefordert haben.

Anarchie und Chaos

Am stärksten waren gestern die Gefechte in der Stadt Mariupol am Asowschen Meer, etwa zwei Autostunden von Donezk entfernt. Nach Angaben des Gouverneurs des Bezirks wurden bis zum Abend sieben Personen getötet und 39 verletzt; der ukrainische Innenminister veröffentlichte auf seiner Facebook-Seite die Zahl von 20 Toten, eine Form der Medienpolitik, die von so manchem Bewohner in Donezk als geschmacklos empfunden wird, weil es für Mitteilungen des Innenministers eigentlich primär andere Foren geben sollte.

Abgesehen von den Toten ist besonders besorgniserregend, dass die Ostukraine immer mehr in Anarchie, Chaos und Kriminalität versinkt. Menschrechte werden immer mehr missachtet, und auch Übergriffe auf Journalisten nehmen zu, wie die OSZE in einer Presseerklärung gestern betonte. Denn auf beiden Seiten tragen immer mehr Personen Waffen, die nur als zweifelhafte Elemente bezeichnet werden können. So besteht auch die sogenannte ukrainische Nationalgarde aus Freiwilligen, die im Schnellverfahren bewaffnet wurden und kaum mit regulären Truppen gleichgesetzt werden können.

Keine Wählerkontrolle

Abgesehen von diesem Chaos gibt es noch viele andere Gründe, warum man das sogenannte Referendum prorussischer Kräfte nur als Farce bezeichnen kann. Dazu zählt das Fehlen flächendeckender Wählerlisten. Dazu sagt in Donezk Boris Litwinow, einer der Verantwortlichen für die Volksabstimmung: "Der ukrainische Staatssicherheitsdienst hält die Wählerlisten unter Verschluss, weil er nicht will, dass sie uns in die Hände fallen. In einigen Städten haben wir diese Listen trotzdem; wo wir sie nicht haben, wird es offenen Listen geben. Jeder Bewohner seiner Stadt, der mit seinem Pass ins Wahllokal kommt, wird dann in die Wählerliste aufgenommen und er kann abstimmen."

Mehrfacher Stimmabgabe ist damit Tür und Tor geöffnet, weil wohl niemand sich die Mühe machen wird, die Einträge nach der Abstimmung zu vergleichen. Hinzu kommt das Fehlen von organisierten Wahllokalen und deren Kundmachung. Formel sind im Bezirk Donezk 3,2 Millionen Bürger stimmberechtigt. Zu den gestrigen Siegesfeiern zum Ende des Zweiten Weltkrieges konnten die prorussischen Kräfte in der 900.000 Einwohner zählenden Stadt Donezk bestenfalls 1.000 Anhänger auf dem Lenin-Platz zusammentrommeln. Mehr als ein Programm zur Minderheitenfeststellung dürfte das Referendum eigentlich nicht werden, doch unter diesen anarchischen Verhältnissen ließe sich ein Volkswille auch beim besten Willen nicht ermitteln.