"Verständnis für Sorge, aber keine Hysterisierung"

Der Soziologe Kenan Güngör hat Verständnis für die Sorge über ein Spaltung der Gesellschaft durch den Erdogan-Besuch. Nach Erdogans Auftritt in Deutschland sei vor allem seine Reaktion auf die Kritik das Problem gewesen - eine Reaktion, die dem Taktgefühl eines Ministerpräsidenten nicht würdig sei. Allerdings halte er eine "Hysterisierung" für überzogen.

Mittagsjournal, 18.6.2014

Der Soziologe Kenan Güngör im Gespräch mit Cornelia Vospernik

Kenan Güngör

(c) ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Wahlkämpfender Privatier

Güngör sieht als Grund für die größere Aufregung in Österreich als etwa in Frankreich in der gemeinsamen Sprache mit Deutschland. Der Soziologe gibt Integrationsminister Kurz recht, wenn er sagt, nicht dass Erdogan kommt ist das Problem, sondern was er sagen wird. Schließlich ist es ein Unterschied, ob ein offizieller Staatsgast dem Protokoll folgt oder ob er als wahlkämpfender Privatier hier ist. "Und da sollte man ihn nicht als eine Mischung je halber Staatsgast und Privatier den Raum geben. Ohne es zu merken, ist man dann schon Teil eines Wahlkampfs geworden", warnt Güngör.

Spaltung der türkischen Community?

Wie viele der 280.000 Mitglieder zählenden türkischen Community sich von Erdogan angesprochen fühlen, dazu gebe es keine Studie. Aber viele kämen aus traditionellen und wertkonservativen Regionen der Türkei. Daher werde Erdogan in Österreich so viel Rückhalt wie in der Türkei oder auch ein bisschen mehr bekommen. Wichtig dabei: Vor Erdogan habe sich kein türkischer Politiker für die Belange der Türkischstämmigen in Europa interessiert. "Für die Türkei waren die Türken hier bestenfalls Melkkühe, die Devisen in die Türkei bringen sollten." Aber auch die Migrationsländer, Österreich, Deutschland, hätten sich nicht für die Türkei-Stämmigen interessiert, sie haben sie bestenfalls geduldet.

Spaltet so ein Besuch die türkische Community? Die Spaltung habe schon längst stattgefunden, nämlich mit der Niederschlagung der Gezy-Park-Proteste, so Güngör. Der Schaden sei also schon angerichtet, Erdogan könne gar keinen größeren anrichten. Die Frage sei aber: "Wem gehören die Türkeistämmigen, die hier schon in der zweiten und dritten Generation leben." Da sei es ein Novum und "entscheidend", dass der Integrationsminister davon spreche, dass es hier um "unsere Staatsbürger" gehe.