Spurenlesen

Magische Schauplätze der Literaturgeschichte.
Eine "Tonspuren"-Sommerserie.

In der Literatur beschriebene Orte üben seit jeher eine besondere Faszination auf Leser/innen aus. Vielleicht ist es der Reiz der Kulisse, vielleicht der Wunsch, das, was man gelesen hat, von seinen Entstehungsbedingungen her zu verstehen - vielleicht sind es auch nur die klingenden Namen berühmter Autorinnen und Autoren, die Städte und Landschaften mit Bedeutung aufladen und in etwas anderes verwandeln. Dabei gibt es Orte, die kongenial mit ihren Schriftsteller/innen bzw. deren Werken zu verschmelzen scheinen, wie die Beispiele im ersten Teil dieser Sommerserie im Juli belegten: das Schloss Duino und Rilke, die Stadt Dublin und Joyce oder das Chelsea Hotel und Arthur Miller.

Verhältnisse mit Spannungen

Doch nicht immer ist die Beziehung zwischen Ort und Autor/in frei von Spannungen, wie die Sendungen im zweiten Teil dieser Serie belegen. Wenn sich Schriftsteller/innen aufs Land begeben, um dort ihre Sommer zu verbringen oder um in der Abgeschiedenheit Ruhe fürs Schreiben zu finden:

In Kirchstetten zum Beispiel, einem kleinen Dorf im niederösterreichischen Voralpenland. Dort hat sich in den 1950er Jahren ein merkwürdiger und geheimnisvoller Engländer mit amerikanischem Pass niedergelassen: W. H. Auden, einer der bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhunderts. Im Verlauf der 16 Sommer, die der Verfasser des "Funeral Blues" in Kirchstetten verbringt, bedichtet er das halbe Dorf: sein Haus und seine Haushälterin ebenso wie das lokale Establishment, den Pfarrer und den Gemeindearzt. Und zumindest in Ansätzen bemüht sich Auden auch um eine Integration ins dörfliche Leben: In Filzpantoffeln marschiert der Anglikaner mit dem Knittergesicht bei der Fronleichnamsprozession mit. Genützt hat es dem Dichter wenig, von den Bauern im Ort wird Auden nie akzeptiert - was weniger an seinen mangelnden Deutschkenntnissen liegt als an Chester Kallman, seinem Lebensgefährten, den er aus Brooklyn mitgebracht hat und mit dem er das Kirchstettner Haus bewohnt.

Misstrauisch beäugt und von Einheimischen als Sonderling belächelt, wenn nicht sogar angefeindet, wird auch August Strindberg, der sich Ende des 19. Jahrhunderts für ein paar Monate im oberösterreichischen Dornach niederlässt. Der bereits berühmte, aber mittellose schwedische Schriftsteller, der vorübergehend mit einer österreichischen Journalistin liiert ist, malt symbolistische Bilder in den Donau-Auen, versucht sich an alchemistischen Experimenten zur Goldgewinnung - und kann nächtens nicht schlafen. Er leidet unter Depressionen und Wahnvorstellungen, bei einer Wanderung durch die nahe gelegene Klamschlucht fühlt er sich an Dantes Hölle erinnert. Später wird er diese Erfahrung in seinem Roman "Inferno" verarbeiten.

Ein Fressen für Tourismusmanager/innen

Als hochnäsig und ein wenig arrogant erscheint dagegen Gerhart Hauptmann den Bauern und Fischern auf der Insel Hiddensee. Bis heute hat man dem Autor von "Die Weber" nicht verziehen, dass er allein auf die Ostsee-Insel übergesetzt werden wollte - ohne die Gesellschaft "normalsterblicher" Passagiere. Hiddensee gilt als die Perle der Ostsee, und unter den vielen Prominenten, die dort ihre Ferien verbringen, gilt Hauptmann als treuester Gast. Ein Kauz, der frühmorgens, wenn alle noch schlafen, an den Strand geht, um nackt zu baden - oder der in einer Franziskanerkutte, die er aus Italien mitgebracht hat, zu meditieren pflegt. Hiddensee verewigt Hauptmann in "Iphigenie in Delphi". Das 1940 entstandene Atriden-Drama wird jedoch selten gespielt, Hauptmann hat sich mit den Machthabern des Dritten Reiches arrangiert.

So kompliziert und manchmal fast feindselig sich die Begegnungen zwischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern und den Landbewohner/innen in diesen historischen Beispielen auch gestaltet haben mögen: Einem Ort kann letztlich nichts Besseres passieren, als wenn er in einem Text eines namhaften Autors bzw. einer namhaften Autorin Erwähnung findet oder beschrieben wird. Um Touristinnen und Touristen anzulocken, präsentiert sich daher Audens Kirchstetten heute stolz als "Dichtergemeinde" und Hiddensee als "Hauptmanns Insel", während man in Oberösterreich Wanderungen unter dem Titel "Mit Strindberg zur Hölle" organisiert.

Ist die Beschreibung eines Ortes jedoch literarisch vage, kann es auch zum Streit um die wahre Verortung des Textgeschehens kommen. Davon zeugt exemplarisch ein Beispiel aus der Ostschweiz, das den Abschluss dieser Sommerreihe bildet. Dort balgten sich Ende der 1990er Jahre findige Tourismusmanager und Lokalpolitiker um die Frage, wo denn Johanna Spyris Geschichte vom Waisenkind Heidi, das von ihrer Base zum Großvater auf die Alm geschickt wird, wirklich spielt. In Maienfeld, das in der Kinder-Alpensaga einmal kurz erwähnt wird? Oder im Sarganserland auf der anderen Seite des Rheins, wo man einen ganzen Landstrich in "Heidiland" umbenannt hat?