Liao Yiwu bei den Erich-Fried-Tagen

Die Erich-Fried-Tage der Literatur im Wiener Literaturhaus stehen im Zeichen der literarischen Reportage. Heute Abend ist der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu zu Gast: Seit vier Jahren lebt der 57-Jährige in Berlin, nachdem er vier Jahre lang in China im Gefängnis gesessen ist.

Morgenjournal, 8.10.2015

Die Erich-Fried-Tage widmen sich heuer der literarischen Reportage. Zur Eröffnung am Dienstagabend sprachen Nobelpreisträger V. S. Naipaul und Christoph Ransmayr, heute Abend ist einer der kompromisslosesten chinesischen Exilschriftsteller im Literaturhaus Wien zu Gast. Liao Yiwu saß vier Jahre lang im Gefängnis, und begann danach in einem Mammutprojekt den Wandel in der chinesischen Gesellschaft zu dokumentieren. So frei und ungeschminkt, dass die chinesische Regierung den Druck seiner Bücher verbot und ihn mit einem Ausreiseverbot belegte. 2011 gelang ihm die Flucht ins Ausland, seit damals lebt er in Berlin.

Porträt der chinesischen Gesellschaft

In den 1980er Jahren war Liao Yiwu Dichter, ein Freigeist, der sich für die amerikanische Beat-Generation begeisterte und zahlreiche Literaturpreise gewann. Doch als er seinem Zorn über die brutale Niederschlagung der Studentendemonstrationen 1989 in einem Gedicht Luft machte, wanderte er für vier Jahre ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung begann er Chinas Gesellschaft von unten zu porträtieren. In seinem Buch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" interviewte er Dutzende Menschen, vom Ausbrecherkönig bis zum Menschenhändler. Liao Yiwu: "Dieses große Unternehmen habe ich schon im Gefängnis begonnen. Einer meiner Zellengenossen war zum Tode verurteilt und erzählte mir, und zwar ohne dass ich das wollte, wie er seine Frau ermordet, zerstückelt und aufgegessen hat. Diese Geschichte hat mich bis in den Schlaf verfolgt und diese Albträume bin ich erst losgeworden, als ich mir diese Geschichte vom Leib geschrieben habe. Und so hat eigentlich alles angefangen."

Embryo-Suppe und krebserregendes Altöl

Ohne offizielle Arbeitserlaubnis schlug sich Liao Yiwu nach seiner Entlassung als Straßenmusikant durch, der spätnachts durch die Bars zog und so ganz ungezwungen mit den Menschen ins Gespräch kam. Sein Buch zeigt die melancholische bis depressive Stimmung einer Gesellschaftsschicht, die mit den rasanten Entwicklungen im Land nicht Schritt halten kann. Ganz anders sein Buch "Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch", in dem er die neue Wirklichkeit der chinesischen Gesellschaft beschreibt. Kein Buch für schwache Nerven, denn hier kommt etwa auch ein Mann zu Wort, der zur Steigerung seiner Potenz regelmäßig Embryo-Suppe isst, sowie der skrupellose Besitzer von Liao Yiwus Stammlokal. Liao Yiwu: "Der musste sein Restaurant zusperren und hat mich deshalb zu einem Abschiedsessen eingeladen. An diesem Abend schmeckte das Essen viel besser als sonst und als ich wissen wollte, was er anders gemacht hatte, erzählte er mir ganz frei, dass er zur Feier des Tages gutes Öl verwendet habe. Und er gab ganz unumwunden zu, dass er die ganzen Jahre zuvor - natürlich wie alle anderen auch - krebserregendes Altöl verwendet habe, sonst hätte er ja nichts verdient."

"Gewissenlosigkeit von der Politik eingeleitet"

Diese Gewissenlosigkeit in Teilen der chinesischen Gesellschaft ist Folge einer Entwicklung, die nach Liao Yiwus Meinung von der Politik eingeleitet wurde - und zwar von allerhöchster Stelle. "1992 hielt Deng Xiaoping im Süden seine folgenreiche Rede, in der er die Armut verdammte und die bedingungslose Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft erlaubte. Reichtum wurde damals zum alleinigen Lebensziel. Und diese Kombination aus einer hundertprozentigen Diktatur und einem hundertprozentigen Kapitalismus ergab eine diabolische Kombination in der Gesellschaft. Damals wurde eine Büchse der Pandora geöffnet, die sich nicht mehr schließen ließ."

Letztes Jahr hat Liao Yiwu ein Manuskript mit dem Titel "Die Wiedergeburt der Ameisen" abgeschlossen, in dem er seine Familiengeschichte erzählt. Derzeit arbeitet er an einem Buch über seine Flucht aus China. Wie sich in seinem Schreiben Tatsachen und Fiktion vermischen, das wird er heute Abend bei den Erich-Fried-Tagen im Literaturhaus Wien erzählen.