Fixe Flüchtlingskontigente für Türkei "riskant"
Die Türkei wird immer mehr zum Schlüsselstaat für die Bewältigung der Flüchtlingskrise. Die EU will deshalb mit einem Abkommen die illegale Migration eindämmen. Deutschland will der Türkei fixe Kontingente an Flüchtlingen abnehmen und dafür sorgen, dass diese legal nach Europa kommen können. Migrationsexperten geben sich skeptisch. Für die Türkei wäre das eine "riskante Strategie".
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 20.11.2015
Viele haben "keine Kraft und Motivation mehr"
Allein im Oktober sind mehr als 100.000 Menschen von der türkischen Küste auf die griechische Insel Lesbos geflohen. Die türkische Küstenwache scheint überfordert. Sie beschränkt sich mittlerweile offenbar in erster Linie darauf, Leben zu retten. An der Flucht gehindert werden nur die wenigsten.
Ist dies Absicht? Will die Türkei Europa so unter Druck setzen und zu Zugeständnissen bewegen? "Der türkische Staat hat keine bewusste Entscheidung getroffen", sagt Murat Erdogan, Migrationsforscher von der Hacettepe Universität in Ankara, "nach dem Motto lassen wir die Flüchtlinge alle nach Europa, um Druck auszuüben. Sondern die lokalen Behörden, die Polizisten, die Küstenwache, sie haben keine Kraft und Motivation mehr. Es kommen einfach zu viele Menschen."
Man könne den Flüchtlingsstrom nicht völlig stoppen, sagt der Migrationsforscher: "Polizei und Küstenwache haben zwar zu wenig Personal und Equipment. Aber auch wenn man dieses Problem lösen würde, dann würde es wohl immer noch mindestens die Hälfte der Menschen schaffen, nach Griechenland zu gelangen. Die finden Wege."
Fixe Kontingente hätten "Sogwirkung"
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel will mit der türkischen Seite fixe Kontingente an Flüchtlingen vereinbaren, die Europa der Türkei abnimmt - geordnet und legal. Allerdings nur unter der Bedingung, dass die Türkei dann die illegale Fluchtbewegung vollständig eindämmt. Das wird schwierig und wäre vor allem für die Türkei eine riskante Strategie warnt der Experte: "Werden hier in der Türkei offizielle Büros eröffnet für geregelte Migration nach Europa, dann würde das wie ein Sog wirken. Noch viel mehr Menschen nicht nur aus Syrien, sondern vor allem aus Afghanistan, Pakistan und dem Irak würden hierher kommen. Unsere Grenzen im Osten sind nicht sicher und nur schwer kontrollierbar. Eine neue, große Flüchtlingswelle wäre wohl die Folge."
"Wichtigster Punkt ist der Arbeitsmarkt"
Drei Milliarden Euro könnte die EU der Türkei zur Verfügung stellen. Das Geld soll vor allem für die bessere Integration der Flüchtlinge verwendet werden, um sie so davor abhalten, nach Europa zu gehen, lautet das Kalkül. Rund die Hälfte der Flüchtlinge nutzt die Türkei allerdings ohnehin nur als Transitland. Für diese Gruppe zählen Integrationsmaßnahmen kaum.
Anders für die mehr als zwei Millionen Syrer, die sich in der Türkei niedergelassen haben. Sie haben zwar Anrecht auf kostenlose medizinische Versorgung, doch darf kaum jemand von ihnen hier legal arbeiten. "Der wichtigste Punkt ist der Arbeitsmarkt. Wenn die Türkei hier neue Regeln aufstellt und syrische Flüchtlinge legal arbeiten dürfen, dann würde das den Druck auf Europa verringern", sagt Migrationsforscher Erdogan.
Man sollte sich dennoch keine Illusionen machen. Erdogan schätzt, dass allein in Syrien bis zu fünf Millionen Menschen bereit sind, zu fliehen, wenn es die Umstände zulassen. Ein interessantes Detail: Die syrischen Behörden stellen mittlerweile angeblich bereits 5.000 Reisepässe pro Tag aus. Geht es um Geschäftemacherei? Will man so Anhänger des Regimes in Sicherheit bringen oder einfach Druck auf die Nachbarländer ausüben? Fragen, auf die es derzeit keine klare Antwort gibt.