Saskia Sassen über "Ausgrenzungen"

Unter den vielen Expertinnen, die in dem Film "The Price We Pay" zu Wort kommen, findet sich auch Saskia Sassen. Die 65-jährige US-Amerikanerin mit holländischen Wurzeln ist eine der prominentesten Soziologinnen der Gegenwart und Autorin viel gelesener Bücher zu brennenden Zeitthemen wie Migration und Globalisierung.

Sassen hält weltweit Vorträge; immer wieder auch in Wien. Zuletzt am vergangenen Freitag, als Gast der Vienna Art Week, im Rahmen der Ausstellung "Creating Common Good" im Kunst Haus Wien. Dort hat Sassen ihr neues Buch "Ausgrenzungen - Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft" vorgestellt.

Kulturjournal, 23.11.2015

Darin wird beschrieben, wie komplexe Investment-Strategien zu massenhafter Ausgrenzung führen: Arbeitslose werden aus der bürgerlichen Existenz ausgegrenzt, lokale Communities aus Innenstädten, die von ausländischen Investoren für Luxuswohnungen aufgekauft werden. Und totes Land und Wasser werden aus der Biosphäre ausgegrenzt. Viele Millionen Menschen werden auf diese Art beraubt - und dann noch einem immer rigoroseren Sicherheitsregime unterworfen. Was sind wir Bürger noch, wenn man so mit uns umgeht? fragt Saskia Sassen.

Service

Saskia Sassen, "Ausgrenzungen - Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft", aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel, S. Fischer Verlag
Originaltitel: "Expulsions - Brutality and Complexity in the Global Economy", Harvard University Press

Saskia Sassen

Saskia Sassen, Ungerechtigkeit hat es immer gegeben, auch soziale Hierarchien bis hinunter zu extremer Armut. Es gab auch immer Ausgrenzung und Ausbeutung, und legalisierten Raub. Sie sagen, das was wir jetzt haben, ist nicht eine Steigerungsstufe alter Missstände, sondern ein neuer Trend. Warum?

Vieles bleibt natürlich gleich. Anderes bleibt nur scheinbar gleich; beruht aber auf einer anderen Dynamik, als wir sie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatten. Damals lebte die Wirtschaft von einem Massenkonsum, zu dem jedes Haushaltseinkommen beitrug: Je mehr Menschen konsumieren, desto besser. Das begann schon in den 1970er Jahren wegzubrechen. In der jetzigen Wirtschaft ist Massenkonsum nicht der dominante Sektor. Sondern die Finanzmärkte - und die stellen eine neue Ordnung her. Die Finanzmärkte saugen aus und hinterlassen zerstört, was sie ausgesaugt haben. Das heißt, die Basis dieser Märkte schrumpft.

Wenn die Basis weiter schrumpft. Könnten dann nicht die Finanzmärkte einfach aus diesem Grund zusammenbrechen - und dann käme ein Neubeginn?

In der Tat. In den letzten Jahrzehnten haben die Finanzmärkte zwar ihren Wert verdoppelt - auch weil die Regierungen den Fehler gemacht haben, mit dem Geld der Bürger Banken zu retten. Dadurch sind aber jetzt unsere Staaten ebenfalls ärmer; und die Mittelklasse hat weniger Geld. Da gibt es nicht mehr so viel zum Aussaugen. Darum werden die Finanzmärkte an Dynamik verlieren. Was danach kommt, hängt teilweise von der Reaktion der Regierungen und der Zivilgesellschaft ab: Lokale Gemeinschaften sollten einen Teil ihrer Wirtschaft re-lokalisieren. Nicht mehr bei internationalen Ketten einkaufen; nicht mehr Kunden bei großen internationalen Banken sein. Das ist ein interessanter neuer Trend.

Aber wie kann man zum Beispiel die industrielle Landwirtschaft re-lokalisieren? Wo Ackerböden mit gebeiztem, genmanipulierten Saatgut auf lange Sicht kontaminiert sind? Es gibt totes Land und Wasser, zum Teil durch Bergbau und Fracking. Dann haben wir Terror und kriegerische Konflikte, die - anders als traditionelle Kriege - nie wirklich aufhören. Und natürlich den irreversiblen Klimawandel. Vielleicht ist es zu spät darauf zu warten, dass ein neuer Zyklus von selbst beginnt?

Alles richtig. In meinem neuen Buch argumentiere ich auch so. Das Landgrabbing, die Plantagen, die den Boden zerstören - das sind katastrophale Entwicklungen. Immer mehr Menschen wandern dadurch in die Städte ein, leben oft in Slums. Die Städte werden dadurch strategische Überlebens-Räume. Viele Arten sind schon durch uns gestorben. Können wir weitere Zerstörung stoppen? Wir müssen es wenigstens versuchen. Aber die Debatte auf Politiker-Ebene ist derart zaghaft. Nichts wird herauskommen. Das Wissen der Forscher wird so wenig zu Rat gezogen. So viele wissenschaftliche Erkenntnisse könnten umgesetzt werden - und es geschieht nicht.

Wie Sie es beschreiben, agieren Politiker hilflos und ohnmächtig, unter dem Einfluss von Lobbyisten, und haben keine Zeit, gute Entscheidungen zu treffen. Was können wir tun? Wählen scheint nicht genug zu sein.

Bürger und gewählte Repräsentanten müssen ihre Hausaufgaben machen. Bei Stadtregierungen entsteht da schon Bewusstsein. Sie wollen oft Maßnahmen setzen, die nationale Regierungen noch nicht in Erwägung ziehen. Die gehen jausnen, wenn es um Umweltthemen geht, oder um das Armutsproblem. Aber auch die Bürger müssen von den Regierungen Handlungen einfordern. Es muss einen Wissensraum geben, wo Bürger Ideen entwickeln und Empfehlungen an die Politiker, die sie dann auch durchsetzen.

Ich wundere mich immer, wie wenig Politiker oft wissen. Finanzmärkte - zu kompliziert; digitale Kommunikation - zu kompliziert; wir delegieren das an die Experten. Aber Entschuldigung, die Experten sind die Konzerne!

Und Intellektuelle engagieren sich zwar - beispielsweise bei der Flüchtlingshilfe, was sehr schön ist -, aber in großem Maßstab intervenieren sie oft zu wenig. Manche, die als Wissensarbeiter selbst ein gutes Einkommen haben, sagen: Aber es geht uns doch immer noch so gut, und unsere Wirtschaft steht besser da als je, wir haben mehr als genug … vielleicht führt auch das nirgendwo hin.

Wenn man unsere Städte ansieht, jedenfalls in Nordamerika, Europa und teilweise Asien: Das visuelle Erscheinungsbild erzählt eine Erfolgsgeschichte. Eine Geschichte von Veredelung, von mehr toller Architektur, usw. Dabei werden auch viele negative Seiten unsichtbar. Totes Land und totes Wasser sehen wir nicht. Das ist nicht einfach weniger fruchtbares Land als früher. Sondern totes Land. Und dann wird es unsichtbar.

Unsichtbar in welchem Sinn?

Weil es sich niemand mehr ansieht. Land, auf dem nichts mehr wächst, fällt aus dem Bild. Dort werden auch keine wirtschaftlichen Maßnahmen mehr gesetzt. In den USA gibt es eine Menge totes Land. Das nationale Territorium der USA ist viel kleiner, als es seinen Grenzen nach sein müsste. Wegen des vielen toten Lands.

Vielleicht kann ziviles Engagement folgendermaßen aussehen: wir ermächtigen uns selbst, uns als Experten für die Regierungen anzubieten, beziehungsweise ihnen die wirklichen Experten zuzuführen. Und Wege zu finden, wie wir uns emanzipieren und den Politikern sagen: Sie müssen uns zuhören.

Völlig einverstanden. Auch das verstehe ich unter Re-Lokalisierung: Wir werden Macher. Wir müssen den Code ändern. Nur ein einfaches kleines Beispiel: Urban Gardening. Das wird nicht die Welt verändern. Aber es verändert den Umgang miteinander in lokalen Gemeinschaften. Weil Leute dabei zu kooperieren beginnen. Sie müssen einander nicht lieben. Das ist kein romantisches Projekt. Sondern ein praktisches. Pflanzen leben, oder sie sterben.

Fragen der Religion oder der Ethnie werden zu derart großen Problemen. Aber wenn bei einem gemeinsamen Projekt jeder und jede gebraucht wird, dann vermittelt das zwischen den trennenden Themen Religion und Herkunft. So entsteht ein urbanes Subjekt.