Martin Pollacks "Topografie der Erinnerung"
Der österreichische Autor und Übersetzer Martin Pollack ist einer der besten Kenner der Geschichte und Gegenwart von Ost-Mitteleuropa. Das zeigen auch seine mittlerweile rund 40 Bücher - eigene wie Übersetzungen. Zuletzt hat er sich in seinem Buch "Kontaminierte Landschaften" mit dem Erbe des Nationalsozialismus in Zentral- und Osteuropa auseinandergesetzt. Im Band "Topografie der Erinnerung" liegen nun seine Essays und Reden vor.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 4.3.2016
Wir kennen Martin Pollack als aufmerksamen Beobachter und scharfsinnigen Analytiker, der stilistisch brillant persönliche Geschichten und Autobiografisches mit Zeitgeschichte und dem politischen Weltgeschehen verwebt. Hier erinnert er einmal mehr an die Verstrickungen seiner Familie in den Nationalsozialismus, an die Gräuel und das Erbe des Naziregimes, an die Zeit des Eisernen Vorhangs und an denkwürdige Grenzerfahrungen von anno dazumal: "Ich erinnere mich heute noch mit Wut an einen tschechischen Grenzbeamten in den frühen Siebzigerjahren, der festgestellt hat, dass mein Passbild - ohne Bart - nicht mit meinem bärtigen Gesicht übereinstimmt. Er hat mir erklärt, 'Ordnung muss sein' und hat mich gezwungen, mir mit einer Klinge und dem eiskaltem Wasser aus der schmutzigen Zugstoilette den Vollbart abzurasieren. Als ich dann mit zerschrammtem, blutigen Gesicht wieder herauskam, hat er befriedigt genickt, den Stempel in den Pass gedrückt und gesagt: Danke, sie dürfen passieren."
Service
Martin Pollack, "Topografie der Erinnerung", Essays und Reden, Residenz-Verlag
Ein ausführliches Gespräch mit Martin Pollack hören Sie heute im "Kulturjournal" um 17.09 Uhr.
Der Standard – Martin Pollack: Diese dunkle Seite
Ach, Grenze
"Ach, Grenze" - unter diesem Titel erzählt Martin Pollack anekdotisch pointiert von einer ganzen Reihe ähnlicher Erlebnisse - in einem Essay aus dem Jahr 2009, der mit den Worten "Tempi passati" endet. Der Autor korrigiert: "So 'passati' ist das im Moment gar nicht, wenn die EU auseinanderdriftet, everybody on his own. Wenn diese Nationalismen, die wir alle überwunden glaubten, jetzt wieder an Kraft gewinnen - da sehe ich große Gefahren auf uns zukommen."
Die Ignoranz Europas
"Die Ignoranz eines freien und wohlhabenden Europas, das sich hinter raffiniert gesicherten Grenzen verschanzt" hatte Martin Pollack vor fünf Jahren kritisiert, bei seiner Dankesrede zum Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, die hier auch nachzulesen ist. "Das ist das Traurige, dass sich daran nichts geändert hat", sagt Martin Pollack, "im Gegenteil, die Situation hat sich noch weiter verschärft, nicht zuletzt durch den Konflikt in der Ukraine ist Europa noch weiter abgerückt. Und es wird noch krasser werden. Wir werden uns weiter einigeln und darauf achten, dass ‚die anderen‘ uns fernbleiben."
Wenn Polen kippt …
Immer wieder betont Martin Pollack die zentrale Lage von Polen - Polen und seine Verdienste als Transitland für Kulturen aus der Ukraine und Weißrussland. Durch die neue nationalkonservative Regierung könnte auch dieser Transfer gefährdet sein, meint Pollack. Unlängst schrieb er im "Standard": "Wenn die polnische Bastion fällt, dann ist das für ganz Europa ein Warnzeichen."
"Wenn Polen ähnlich wie Ungarn kippt, dann ist das ein großer Verlust für uns alle, und für Europa ist das nicht ungefährlich", sagt Martin Pollack. Mit seinem Essayband zeigt er, wie eindrucksvoll sich Politik, Geschichte und Literatur, Zeugen- und Autorenschaft verbinden lassen.