Notre Dame, Polizeiaufkommen

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Tao

Brennpunkt Islam in Frankreich

Der Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" im Jänner 2015 hat den Anfang einer Welle von erschütternden, terroristischen Attacken mit insgesamt bereits mehr als 200 Todesopfern und hunderten Verletzten markiert. Seither wird hauptsächlich ein Gesicht des Islams von Frankreich in die Welt transportiert: jenes des radikal-islamischen Dschihadismus.

Staat und Bevölkerung sind weiterhin in Alarmbereitschaft, die Angst vor dem Terror gehört mittlerweile zum französischen Alltag – für Nicht-Muslime wie Muslime.

Darüber, wie viele Musliminnen und Muslime in Frankreich leben, gibt es nur Schätzungen; diese reichen von 3,5 bis 9 Millionen, da die Befragung nach der religiösen Zugehörigkeit aufgrund der Antidiskriminierungsgesetze unzulässig ist. Unumstritten ist die immer noch prekäre, soziale Situation vieler Musliminnen und Muslimen mit Migrationshintergrund. Vor allem jener, die ghettoisiert in den Vorstädten von Paris, Lyon oder Marseille leben – schlecht integriert, ohne Arbeit und Perspektiven. Diese sozialen Brennpunkte ziehen nicht erst seit Aufkommen des sogenannten IS Hassprediger an.

Gefühle der Benachteiligung und Diskriminierung sind auch durch weitgreifende, politische Entscheidungen verstärkt worden: Der immer noch andauernde Ausnahmezustand und die damit einhergehenden restriktiven Gesetze treffen viele Musliminnen und Muslime hart. Das Zusammenleben in Frankreich zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen wird schwieriger. Mit dem Erbe der Kolonialzeit, den vielen Migrantinnen und Migranten aus Nordafrika (Marokko, Algerien, Tunesien) sowie dem Spannungsfeld Laicité und Scharia hat Frankreich seine ganz eigene Geschichte mit dem Islam.

Drei unterschiedliche muslimische Stimmen zum Status Quo der heiklen Lage des Islams in Frankreich.

Brennendes Auto

AFP/PATRICK KOVARIK

Radikale in den Banlieues


Welche Probleme hat der Pariser Vorort Seine-Saint-Denis?
M’hammed Henniche, Generalsekretär der Union des Associations Musulmanes de Seine-Saint-Denis: In diesem Vorort kommen alle Probleme von Frankreich zusammen. Die Arbeitslosigkeit beträgt um 10 Prozent mehr als im französischen Durchschnitt. Wenn man bei einem Bewerbungsgespräch angibt, dass man aus Seine-Saint-Denis kommt, hat man kaum Chancen, einen Job zu finden.

Der wirtschaftliche Rückstand der Region beträgt im Vergleich zu anderen Departments zirka zehn Jahre. Gewaltausbrüche wie 2005 (Anm.: Damals gab es nach dem Unfalltod zweier Jugendlicher massive Ausschreitungen und Unruhen in den Pariser Banlieues.) können jederzeit wieder passieren. Die Gewalt verursachenden Faktoren sind immer noch vorhanden - hauptsächlich sind das die Diskriminierung und Marginalisierung der migrantischen Bevölkerungsgruppen.

Welche radikal-islamischen Strömungen sind in den Banlieues vertreten?
Henniche: Die Bevölkerung hier kommt aus dem Maghreb und aus dem Subsahara-Afrika, sie praktiziert traditionellerweise nach dem malekitischen Ritus, das ist eine friedfertige, moderate islamische Rechtsschule. Unglücklicherweise sind die Menschen hier stark mit radikaleren Strömungen konfrontiert, zum Beispiel mit den Muslimbrüdern. Von den Golfstaaten wurde und wird hier irrsinnig viel investiert, das hat die Muslimbruderschaft von einer kleinen Gruppe zu einer großen Organisation gemacht. Die anderen sind die Salafisten. Sie haben ebenfalls an Macht und Sichtbarkeit gewonnen.

Inwiefern hat sich die Situation in den vergangenen Jahren zugespitzt?
Henniche: Es gibt einen regelrechten Wettkampf darum, die Moscheen zu destabilisieren - zwischen den Muslimbrüdern und den Salafisten. Jede Gruppe, möchte die Moscheen kontrollieren. Diese Destabilisierung hat bewirkt, dass der Großteil der Moscheen mittlerweile schlecht geführt wird.

Trotzdem gibt es Lichtblicke, oder?
Henniche: Ja, Seine-Saint-Denis ist eine sehr junge Region, geprägt von der Jugend und dynamisch. In einige Gegenden hier hat die Stadt viel investiert, das zahlt sich bereits aus, dort hat sich beispielsweise die Infrastruktur deutlich gebessert.

Frau hält Plakat hoch: "Wir sind alle Brüder und Schwestern!"

"Wir sind alle Brüder und Schwestern!"

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Die neue Generation


Was bedeutet Identität für Sie?
Ouissème Hsine, Studentin in Paris: Also genetisch bin ich 100 prozentig marokkanisch abgesehen von der ganzen Migrationsgeschichte. Aber eigentlich bin ich Französin. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, Französisch ist meine erste Sprache, ich bin hier in die Schule gegangen. Die meisten meiner Freunde sind weiß und Franzosen, haben französische Namen und französische Leben. Das Problem ist immer: In Frankreich sagen sie dir, dass du keine echte Französin bist und dann bist du in Marokko und sie sagen dir, dass du keine echte Marokkanerin bist.

Ouissème Hsine

Ouissème Hsine

Die 24-Jährige hat marokkanische Wurzeln, stammt aus den Vororten von Lille und studiert in Paris.

Welchen Bezug haben Sie zu Ihrer Religion?
Hsine: Ich bin stolz darauf und schrecke nicht davor zurück darüber zu reden, wenn ich auf den Islam angesprochen werde. Ich hätte gerne, dass die Menschen ein vollständigeres, realistischeres Bild des Islams in Frankreich bekommen. Wir sind nicht so, wie sie das von uns glauben. Ich trage kein Kopftuch, aber manchmal High-Heels. Ich bin gepierced, ich reise alleine, spreche Englisch. Fast alle meine Freunde sind weiß, haben französische Namen und französische Leben. Ich bin Wissenschafterin, Studentin und Feministin. Meine Mutter ist auch so, sie trägt ein Kopftuch und das bedeutet gar nichts. Mein ganzes Benehmen und Verhalten habe ich zu 100 Prozent von meiner Mutter. Man hat das Recht eine Muslimin und eine starke und unabhängige Frau zu sein.

Haben Sie in Ihrem Bekanntenkreis Erfahrungen mit radikalisierten Musliminnen und Muslimen gemacht?
Hsine: Ja, ich habe einen guten Freund, den ich seit meiner Kindheit kenne. Dann war ich einmal auf Urlaub und als ich zurückgekommen bin, hat er nicht einmal mehr Hallo gesagt. Er war meine erste Liebe, wir waren auf Ferienlager gemeinsam. Und dann hat er mich nicht einmal mehr angesehen. Und ich habe gesagt: Was ist mit dir passiert? Ich hab dich erst vor einem Monat gesehen. Und er hat geantwortet: Ja, weißt du, ich berühre keine Frauen mehr. Und ich: Mann, ich bitte dich nicht, mit mir Kinder zu haben, sondern nur mich zu grüßen. Ist das verboten? Und er hat mich und ist gegangen.

Ludovic-Mohamed Zahed

Ludovic-Mohamed Zahed, 39, Imam in Marseille und offen homosexuell

AFP/JEAN-PHILIPPE KSIAZEK

Liberal und progressiv


Sie haben einen bemerkenswerten Werdegang hinter sich: Sie waren Salafist und jetzt sind Sie einer der ganz wenigen schwulen Imame Europas.
Ludovic-Mohamed Zahed, Imam in Marseille: Ich komme aus Algerien. Wir waren dort wegen der Kolonialisierung, Französisierung und schlussendlich Arabisierung vom traditionellen, algerischen Islam abgeschnitten. Der Islam, der zur Verfügung stand, war jener der ägyptischen Muslimbrüder oder der saudischen Salafisten, die Arabisch-Professoren geschickt hatten.

Daher habe ich die salafistische Ideologie kennen gelernt, nicht so sehr den mystischen, spirituellen Islam, der mich interessiert hätte; jenen Islam meiner Großmutter und meines Großonkels, die Sufis waren. Bei den Salafisten habe ich auch den Koran studiert, die Wissenschaften der Religion. Ich schlage sie nun mit ihren eigenen Waffen: Mit diesem Wissen kann ich heute umso besser die vermeintlichen Dogmen – theologisch – dekonstruieren.

Was bedeutet es für Sie homosexuell und Muslim, sogar Imam, zu sein?
Zahed: Mit 17 Jahren habe ich verstanden, dass ich homosexuell bin, kurz nachdem meine Familie von Algerien nach Frankreich geflohen ist. Das war schwierig und ich habe mich vom Islam eine Zeit lang abgewendet. Mit 25, 30 Jahren hat mir meine Spiritualität sehr gefehlt, da habe ich begriffen, dass ich mir meine offene, freie, tolerante, auch universelle Version des Islams zurückerobern muss, die ethischen und spirituellen Grundprinzipien des Islams. Und das mache ich seit damals. Ich arbeite in verschiedenen inklusiven, LGBT-freundlichen Moscheen in Europa. Das sind kleine, unterfinanzierte, aber sehr lebendige Gemeinden.

Sie machen sich für eine progressive Form des Islams stark.
Zahed: Ja, genau. Die Reform des Islams ist im Anmarsch, aber sie braucht mehr Zeit. Der Großteil der Musliminnen und Muslime hat jetzt kapiert, dass der Islam ein spiritueller Weg zur Befreiung und eine Lebensphilosophie ist, die uns ermutigt, bessere Menschen zu werden. Keine Religion oder Ideologie, die eine patriarchale, faschistische, militärische Norm vorgibt, so wie er heute immer noch in der islamischen Welt verstanden wird. Aber diese Krise des Glaubens wird vorbeigehen. Wir müssen die Geschwister in der islamischen Welt auf ihrem Weg zu Demokratie und Humanismus unterstützen.

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