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ORF/JOSEPH SCHIMMER

Debütroman

"Das Versteck" von Christophe Boltanski

Mit Ironie und Zärtlichkeit erkundet der französische Journalist Christophe Boltanski seinen prominenten, vom Holocausttrauma geprägten Familienclan. Kristallisationspunkt der familiären Obsessionen Exzentrik ist das Haus in der Rue de Grenelle in Paris.

Ex libris, 3.9.2017

"Boltanski schildert die einzelnen Persönlichkeiten mit sehr viel Witz (...) auch die Dramaturgie des Romans ist gleichermaßen unterhaltsam wie hintersinnig."

Susanne Schaber

Am Volant der beiden Fiats, die im Innenhof eines Hauses in der Pariser Rue de Grenelle parken, sitzt ausschließlich die Großmutter. Sie ist der Angelpunkt des Romans: eine kleingewachsene Frau und schon seit Kindertagen eine Ausgestoßene. Ihre Eltern duckten sich unter dem Deckmantel bürgerlicher Wohlanständigkeit und tarnten Armut und Scheitern, indem sie ihre Tochter an eine wohlhabende Patentante verschenkten. Eine Polio-Erkrankung beschert ihr zudem eine Gehbehinderung. Doch sie widersetzt sich dem Leiden, heiratet und bringt drei Buben zur Welt, die sie fortan als Krücken benützt - im realen und übertragenen Sinn.

Auch ihr Mann, als Sohn armer russischer Juden zum Arzt aufgestiegen, hat mächtig zu kämpfen. Er erfasst die Zeichen des Antisemitismus der 1930er Jahre und konvertiert zum Christentum. Das schützt ihn nicht vor Verfolgung, als der Faschismus über Frankreich hereinbricht. Er verliert seine Stelle, sein Ansehen und jede Hoffnung. Seine tatkräftige Ehefrau aber entwickelt einen Plan: Als erstes betreibt sie die Scheidung. Danach soll ihr Mann nach einem gut inszenierten, für die Nachbarn hörbaren Streit mit einem Koffer davonstürmen, um sich im Morgengrauen nach Hause zurückzuschleichen. Dort zwängt man ihn in eine Kammer und baut noch einen Verschlag, in dem er sich verstecken kann.

Spiegel der europäischen Geschichte

Das Haus in der Rue de Grenelle, eine Trutzburg nach außen, wird zum Gestaltungsprinzip des Romans, den Tobias Scheffel klug übersetzt hat. Zimmer für Zimmer durchmisst Christophe Boltanski die einzelnen Etagen, um den Bewohnern und deren Geheimnissen auf die Spur zu kommen - und damit auch sich selbst. Sein Buch lotet aus, wie sich Erinnerungen konstituieren und wie hartnäckig sich Mystifikationen über die Wirklichkeit legen. Was solcherart entsteht, ist ein Geflecht von Anekdoten und Legenden, mit deren Hilfe man sich durch die Jahrzehnte hantelt, um der oft quälenden Realität und dem Wissen um die familiären Abgründe zu entrinnen.

Die Schilderung aus der Rue de Grenelle wird zum Spiegel der europäischen Geschichte. Christophe Boltanski holt sie alle vor den Vorhang: die Rabbiner aus dem Schtetl, die assimilierten Juden der Großstädte, die christlich-klerikalen Landbesitzer, Kommunisten und Künstler, die Überlebenden des Holocaust, die sich zeitlebens auf dünnem Eis bewegen.

Service

Christophe Boltanski, "Das Versteck", Roman, aus dem Französischen von Tobias Scheffel, Hanser Verlag; Originaltitel: "La Cache"
Frankfurter Buchmesse 11. bis 15. Oktober 2017