Spiegelungen

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Roman

"Im Herzen der Gewalt" von Édouard Louis

Der 1992 geborene Édouard Louis hat 2013 mit seiner Coming-of-Age-Geschichte "Das Ende von Eddy" ein bemerkenswertes Debüt vorgelegt. Geschildert wurde das von subtiler bis brutaler Gewalt begleitete Aufwachsen eines homosexuellen Jungen in der nordfranzösischen Provinz. Jetzt ist sein zweiter Roman erschienen. Ebenfalls autobiografisch und diesmal sein Thema im Titel tragend. Der lautet: "Im Herzen der Gewalt".

Ex libris, 10.9.2017

"Ein Text, der viel wagt - und gewinnt. Denn hier wird eine Selbstentblößung durch die richtige Wahl der Form und deren Beherrschung zur in ihrem Wahrheitsanspruch glaubhaften Kunst."

Gudrun Hamböck


Eddy, der Unterschichtsjunge aus der Picardie, lebt jetzt in Paris, nennt sich Édouard, studiert Soziologie, ist Schriftsteller und stolz auf seinen sozialen Aufstieg in die sonst für seinesgleichen so unzugängliche Kulturszene. In der Weihnachtsnacht 2013 wird er, leicht angetrunken auf dem Heimweg vom Abendessen, von einem attraktiven jungen Mann angesprochen: Reda, Sohn eines Kabylen und Underdog aus einer Banlieue im Pariser Norden. Ein Flirt entspinnt sich und der anfangs zögernde Édouard nimmt Reda mit in seine Wohnung. Die spontane Liebesnacht, in der man sich aus dem Leben erzählt, nimmt eine dramatische Wendung, als Édouard bemerkt, dass Reda versucht sein iPad und Handy zu stehlen. Als er ihn - betont sanft und verständnisvoll - zur Rede stellt, dreht Reda durch und die Nacht endet mit Vergewaltigung und Mordversuch.

Der Roman beginnt mit den Stunden nach der Tat. Édouard putzt seine Wohnung, bringt die Bettwäsche in den Waschsalon. Was dann folgt - Polizeiverhöre, ärztliche und kriminaltechnische Untersuchungen - vertieft das Trauma, denn Édouard wird seine Geschichte aus der Hand genommen.

Ich begriff an jenem Abend nicht, wie es angehen sollte, dass mein Bericht nicht mehr mir gehören sollte, sondern der Justiz

Édouard Louis hat schon in seinem Erstling bewiesen, dass er Autobiografisches literarisch zu meistern versteht. Beim Zweitling gelingt ihm das noch überzeugender. Denn die Handlung wird nicht linear abgespult, sondern in einen raffinierten Rahmen gestellt. Der Erzähler belauscht hinter einer Tür seine Schwester, zu der er sich in seinem emotionalen Chaos geflüchtet hat. Er hört also seine eigene Geschichte durch den Filter der schwesterlichen Wahrnehmung, angereichert mit Meinung, Ressentiment, Selbstdarstellung, zerfasert durch Ausschmückungen und Abschweifungen. Dazwischen kommentiert und berichtigt er für sich ihr Sprechen, schweift seinerseits ab und reflektiert sprunghaft und assoziativ seine Erlebnisse wie auch ihre Erzählung.

Service

Édouard Louis, "Im Herzen der Gewalt", Roman, aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, S. Fischer; Originaltitel "Histoire de la violence"
Frankfurter Buchmesse 11. bis 15. Oktober 2017