Serien-Darstellung eines Streaming-Anbieters

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Soziale Netzwerke im Umbruch

Weißer Ritter verzweifelt gesucht

Die Mediennutzung verändert sich, und besonders stark bei den Jungen. Die sind vor allem online und nutzen dort die Angebote der amerikanischen Internet-Riesen wie Facebook, Google und Netflix. Europa müsse darauf eine Antwort geben, tönt es jetzt aus den Chefetagen der öffentlich-rechtlichen Sender. Bannerträger ist der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm, der ein "europäisches YouTube" bauen will. Und in Österreich macht der ORF mit dem Projekt eines Players auf den Spuren von Netflix die Probe aufs Exempel.

In Europa konsumiert bereits die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen Fernsehen online, in Ländern wie Deutschland und Spanien hat die Streaming-Plattform Netflix die öffentlich-rechtlichen Mediatheken bereits eingeholt. In Österreich ist die TV-Thek noch hauchdünn vorne. Das sind Ergebnisse einer aktuellen Studie der European Broadcasting Union EBU. YouTube, das geht aus dem neuesten Digital-Report der Internet-Expertin und Autorin Ingrid Brodnig hervor, ist in Österreich ein völlig unterschätzter Riese.

Die Netflix-Generation macht Druck

"Das sind Millionen Aufrufe, die die haben, das ist ein Millionen-Publikum, das ich dort haben kann", sagt Brodnig. Zahlen zur Nutzung von Social Media in Österreich zeigen, dass hier mehr Menschen auf YouTube als auf Facebook aktiv sind (laut Digital News Report) - 66 Prozent YouTube stehen 63 Prozent Facebook-Nutzern gegenüber. Noch viel stärker zeigt sich die Bedeutung der Videoplattform von Google bei der jüngeren Zielgruppe: 8 von 10 Jungen sind auf YouTube.

Ein hehrer Algorithmus für Europa?

Kein Wunder, dass europäische Medienmacher da sehnsüchtig werden. Ulrich Wilhelm, Chef des Bayerischen Rundfunks und derzeitiger ARD-Vorsitzender, möchte eine europäische Plattform etablieren, die den US-Giganten Paroli bieten kann. "Am Ende geht es um eine technische Infrastruktur, die natürlich eine Suchmaschine braucht und Empfehlungsfunktionen – also auch genaue Algorithmen. Die dürfen aber nicht einseitig die Zuspitzung bevorzugen." Wilhelm will ein Youtube mit einem hehren Algorithmus.

Alle dafür und alle skeptisch

Mit dem Begriff "europäisches YouTube" ist keiner glücklich, Hans Demmel, Chef von n-tv und Sprecher der deutschen Privatsender, warnt ausdrücklich davor: Das Markenzeichen von YouTube seien Inhalte, die von Usern hochgeladen werden. User-generated Content heißt das, und das habe mit Qualitätsanspruch nichts zu tun, so Demmel - der eine europäische Plattform aber befürwortet, wie überhaupt alle. Nur sind die meisten eher skeptisch, dass was draus wird.

"Wollen die Privaten das überhaupt?"

Manche sind sogar sehr skeptisch, wie ZDF-Chef Thomas Bellut: "Ich glaube, dass wir selbst nicht die Kraft haben. In Deutschland hat man immer nach dem weißen Ritter gesucht, der die Kraft entwickelt, den amerikanischen Anbietern etwas entgegenzusetzen. Den weißen Ritter gibt es bisher nicht." Auch Ladina Heimgartner, Vize-Chefin der Schweizerischen SRG, hat Bedenken, ob die Privaten bei so einem Projekt wirklich mitmachen: "Wollen die das überhaupt? Ich glaube, wir Öffentlich-Rechtlichen müssen da aufpassen mit unseren Vorschlägen", warnt Heimgartner.

Wrabetz für Starthilfe wie in USA

ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz sieht eine Chance für eine europäische Plattform, wenn die Politik dem Projekt einen Anstoß gibt - schließlich hätten auch die Giganten aus dem Silicon Valley massive Starthilfe durch öffentliche Gelder gehabt. "Beim nächsten technologischen Schritt dieser Internet-Plattformen könnte Europa schon eine Rolle spielen." Groß ist die Skepsis hingegen bei der jungen Generation. Der bekannte deutsche Journalist Richard Gutjahr meint zum Beispiel, Europa sei Jahrzehnte zu spät dran.

Schrems will Netzwerke aufbrechen

Der Datenschutz-Experte und Facebook-Kritiker Max Schrems sieht das Projekt einer Plattform für Europa grundsätzlich positiv, aber es sei chancenlos. Es sei denn, die Politik entschließe sich, Netzwerke wie Facebook aufzubrechen. Sie nach dem Muster der E-Mail-Provider durchlässig zu machen. Und Ingrid Brodnig sieht eine Chance in der Spezialisierung: "Für Fotos nutzen wir Instagram, für Videos YouTube, für schnelle Nachrichten Twitter und für allgemeine News Facebook." Eine Plattform der Öffentlich-Rechtlichen könnte eine Ergänzung sein, und etwa den speziellen News-Bereich abdecken.

Player mit begründeten Empfehlungen

Im kleinen Österreich hält Europa seine Probe. Unter der Ägide von Franz Manola, dem Erfinder von ORF.at - der berühmten blauen Seite - wird im ORF an einer neuen Plattform gearbeitet. Die soll ab 2020 laufen und danach können alle Medien im Land andocken, wenn sie wollen. Eine Besonderheit dieses Players wird laut Manola sein, "dass wir diese Videos, die wir auf die Netflix-artige Oberfläche stellen, mit einer Erklärung versehen, warum sich der Konsument genau dieses Video ansehen soll". Also Empfehlungen wie auf Netflix, aber begründete Empfehlungen, für ein mündiges Publikum.

Platz für Youtuber auf neuer Plattform

Und Projektleiter Franz Manola weist auf noch einen Punkt hin: "Es ist definiert, dass es auf dem Player einen Anteil geben muss für Independent-Produktionen. Also ein YouTuber könnte sich also durchaus einmal auf dieser Plattform versuchen." Ein spannendes Angebot, wenn es denn genutzt wird. Denn YouTube ist schon eine eigene Welt, wie der Digitalreport vom Ingrid Brodnig zeigt. Die bisher größte Studie zu YouTube-Nutzung in Österreich hat mehr als 100.000 Videos und rund 18 Millionen Kommentare von 4,8 Millionen Nutzern erfasst, die in den vergangenen dreieinhalb Jahren auf YouTube aktiv waren bzw. gepostet wurden.

Holz-Häcksel-Fahrzeug als Video-Hit

Das Resümee: YouTube ist ein seltsamer Ort mit skurrilen Nischen. Verschiedenste spezielle Interessen werden dort bedient. Eines der populärsten Videos ist zum Beispiel ein Holz-Häcksel-Fahrzeug in Action. Drei Minuten lang zerkleinert es Holz. 2,6 Millionen Mal wurde das aufgerufen und angesehen. Der Kanal ist erfolgreicher als jeder Account einer österreichischen Partei auf YouTube. Auch sehr erfolgreich ist der Account MouseAgility, bei dem es darum geht, Mäusen Kunststücke beizubringen.

Freiheitliche auf allen Kanälen

Von der Politik wird das YouTube-Universum bisher ignoriert. Die entscheidende Ausnahme stellte der Nationalratswahlkampf 2017 dar. In der Intensiv-Phase wurden Nachrichten- und Politik-Videos viel mehr geklickt als sonst. Besonders erfolgreich war FPÖ-TV. "Sieben der besten zehn Videos im Zeitraum der Nationalratswahl waren von der FPÖ", sagt Brodnig. Das erfolgreichste Video war "Ich sage es für euch" von Heinz-Christian Strache. Mit einem Video in den Top Ten vertreten ist sonst nur die SPÖ, ansonsten ist keine Partei darunter. Brodnig: "Die FPÖ hatte eine YouTube-Strategie, die anderen Parteien nicht."

Politik lässt YouTube rechts liegen

Während die anderen Parteien sehr viel Energie auf Facebook verwendet haben, hatten die Freiheitlichen offenbar einen Etat für YouTube, und das haben sie geschickt genutzt. "Das sieht man an den Zugriffszahlen", sagt Brodnig. Samt Umwegeffekt: Denn rechte Videos würden sich auf YouTube sehr gut verbreiten. Der Digitalreport hat getestet, was angezeigt wird, wenn man bei YouTube zum Beispiel nach den Parteichefs sucht – und da kommen bei allen Namen viele rechte und Verschwörungsseiten. Sucht man also nach Christian Kern, stehen die Chancen nicht schlecht, dass man bei einem Clip von "Österreich zuerst" landet. Und das ist ein FPÖ-Kanal.

Service

Digitalreport: YouTube in Österreich

Digital News Report 2018

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