Spielzeugzug und Holzbahn

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Fernando Pessoa

Eine Spielzeugbahn, unser Herz genannt

Der vielgestaltige Dichter Fernando Pessoa in Georg Rudolf Linds Übersetzung.

Es muss ein ganz besonderer Augenblick gewesen sein, als die Truhe mit Fernando Pessoas Werken, viele Jahre nach seinem Tod, einer Reihe von Wissenschaftlern zugänglich gemacht wurde. In dieser Truhe befanden sich die ungeordneten Manuskripte Pessoas, der zu seinen Lebzeiten (1888-1935) nur einen einzigen Gedichtzyklus veröffentlicht hatte.

Unter den neugierigen Blicken befand sich auch jener eines deutschen Romanisten, der durch Vermittlung des Literaturprofessors seiner portugiesischen Ehefrau Kontakt mit Pessoas Halbschwester aufgenommen hatte und eingeladen worden war, die Truhe zu begutachten. Was er fand, erweckte nicht nur seine Neugierde, sondern wurde zu seiner Berufung: Georg Rudolf Lind sollte zum ersten und unübertroffenen Übersetzer der Werke Pessoas werden.

Und so fährt auf ihrem Gleise,
unterhaltsam dem Verstand,
eine Spielzeugbahn im Kreise,
unser Herz genannt.

In keiner anderen Sprache ist je ein Übersetzer Pessoa so nahe gekommen wie Lind. Ich wage zu behaupten, dass selbst dem großen Pessoa-Kenner Antonio Tabucchi in der Schwestersprache Italienisch nicht gelang, was Lind im Deutschen gelungen ist. Er konnte dem deutschsprachigen Lesepublikum das komplexe Denken des portugiesischen Dichters ebenso zugänglich machen wie die vielfältigen Verknüpfungen zu Philosophie, Geschichte und Literatur, die Pessoa oft mit spezifisch portugiesischen Konnotationen versah.

Die wahre Kunst des Übersetzers offenbart aber seine unglaubliche Musikalität. Es mag Georg Rudolf Lind geholfen haben, dass er selbst auch Musiker war. So wurden seine Konzerte als Organist in der Lissabonner Kathedrale, der Sé, in den 1960er Jahren sogar im Rundfunk übertragen. Auch Pessoas portugiesische Sprache ist oft Musik, und der Dichter verdichtet den Klang mit tieferen Bedeutungsschichten.

Sei vielfältig wie das Universum!

Fernando Pessoa interpretierte sein Lebensmotto mit allen Konsequenzen: Er vervielfältigte sich selbst. Er erfand so etwas wie Dichter-Alter-Egos, sogenannte Heteronyme, die sein - in ganz unterschiedliche Richtungen gehendes - Denken poetisch ausdrücken sollten. Pessoa gab den wichtigsten von ihnen detaillierte Biografien und erstellte sogar Horoskope.

Perspektivenwechsel

Da ist der futuristische Schiffbauingenieur Álvaro de Campos, der Oden schreibt nach der Devise: "Alles auf jegliche Weise fühlen". Ganz anders ist der monarchistisch gesinnte Arzt Ricardo Reis, der sich in seiner Dichtung auf die Antike bezieht und in den Pessoa seine "gesamte innere Disziplin, die in Musik getaucht war" legte.

Ihr aller "Meister", Alberto Caeiro, verschrieb sich in seiner bukolischen Dichtung ganz der reinen Betrachtung. Aber auch der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares aus Pessoas vielleicht berühmtestem Werk, dem Buch der Unruhe, gilt als ein Halb-Heteronym.

Fernando Pessoa war zwar nicht der einzige sich vervielfältigende Dichter, aber er war wohl einer der radikalsten. Dem Werk, das zeitlebens Fragment geblieben ist und das sich in gewisser Weise auch der Systematisierung entzieht, wurde alles untergeordnet, auch das Leben, auch die Liebe. Die einzige Frau, die für Pessoa eine Rolle gespielt hat, war Ofélia Queiroz. "Falls ich heiraten sollte, werde ich nur Sie heiraten", schrieb er ihr in seinem Abschiedsbrief.

Dieser Artikel entstammt der aktuellen Ausgabe des Ö1 Magazins "gehört".

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