Bus auf einer Brücke im Nebel

APA/AFP/Anthony WALLACE

Ex libris

Autobus Ultima Speranza

Verena Mermer lässt ihren zweiten Roman in einem Nachtbus spielen.

"Busfahrten machen anfällig für Rückblicke." Das ist ein zentraler Satz in Verena Mermers Roman "Autobus Ultima Speranza". Einer, der das Erzählprinzip benennt. 44 Menschen - zwei Fahrer und 42 Passagiere - besteigen in Wien an einem 22. Dezember einen Autobus in die Stadt Cluj - jene rumänische Stadt, die auf Ungarisch Kolozsvár und auf Deutsch Klausenburg heißt. Die Nacht, die sie gemeinsam unterwegs sind, ist die Zeit der Romanhandlung. Fast alle haben schon eine längere Erfahrung mit dieser Reise, mit dem Hier und Dort, den kurzen Aufenthalten in der alten rumänischen Heimat und der Arbeit im ehemaligen Westen, wo sie nie heimisch werden. Arbeitsmigrantinnen und -migranten sind sie fast alle.

Biografische Fragmente

Es ist eine große Leistung dieses Romans, wie intensiv er einen in kurzer Zeit in sehr unterschiedliche Biografien involviert - nie durch ein behäbiges Auserzählen, sondern durch kurze Erinnerungsfragmente, Beobachtungen oder Gedankensplitter. Bei manchen Figuren verweben sie sich über das Buch hin fast zu einer Biografie, etwa bei Tudor, der in einem Schlachthof in Deutschland schuftet. Die Familie kann in Rumänien nicht überleben, Tudor wurde ausgewählt, er musste zum Geldverdienen ins Ausland. Seine Situation wird so beschrieben:

Mittlerweile weiß er, dass er sich jedes Mal selbst belügt, wenn er sich einredet: "Ich halte das aus. " Aber die Frage, ob er noch kann oder ob ihm alles zu viel wird, stellt sich nicht. Er muss können, pro Arbeitstag zwölf Stunden schlachten und zerlegen. Muss nachts schlafen, mit drei anderen ein einem Zimmer und mit den Gedanken an seine Familie, die ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Wenigstens zweimal im Jahr heimreisen, ohne gekündigt zu werden. Mit dem Bus und zwei, drei Umstiegen von Westfalen bis Transsilvanien. Wenn er rechtzeitig weiß, wann er nicht gebraucht wird, auch mit dem Flugzeug.

Diesmal sitzt Tudor wieder einmal im Bus. Und der Roman setzt mit seiner Erzähltechnik diese nächtliche Busreise sinnlich präsent. Auch die Musik, die die Reisenden hören, und die gezeigten Filme werden eingespielt; es sind vor allem "E.T. - Der Außerirdische" und "Titanic". Bei ersterem kommen Tudor die Tränen, er kann noch immer keine Filme mit Kindern oder für sie sehen - seine Tochter ist vor zwei Jahren gestorben.

Moderne Arbeitssklaven

Viele, die im Schlachthof, als Kindermädchen, als Pflegerin oder am Bau arbeiten, haben Kinder. Immer wieder wird der scharfe Schmerz der Trennung sichtbar - bei den Zu-Hause-Gebliebenen wie bei denen, die weg sind, um das Leben zu Hause zu finanzieren. Vorgeschichten schälen sich heraus, aus denen deutlich wird, warum jemand wegmusste; und freiwillig oder aus Abenteuerlust ist keiner und keine gegangen. Und glücklich mit seiner Arbeit ist eigentlich auch niemand.

Es sind moderne Arbeitssklaven, von denen Verena Mermer erzählt. Oft sind sie in illegalen Beschäftigungsverhältnissen, immer werden sie ausgebeutet, denn sie sind ja abhängig. Dieser Roman ist eine Sonde in die Arbeitsbedingungen und Lebenswelten in den Zeiten der Globalisierung. Manchmal reicht ein einziger Satz, um sie auf den Punkt zu bringen:

Arbeitssuchende Menschen gehen für gewöhnlich nach Österreich oder Deutschland, abgelegte Kleider hingegen landen in der Republik Moldau oder in Rumänien.

Liest man diesen Roman, kann man nicht mehr unbehelligt durch den eigenen Alltag gehen. Man sieht die vielen Arbeitskräfte aus den Ländern, die wir noch immer gelegentlich unter "Osteuropa" subsumieren, mit andern Augen. Vor allem aber fragt man sich: Wer hat unter welchen Bedingungen das abgepackte Fleisch in meinem Supermarkt verarbeitet? Wer hat die Gurken geerntet, die ich esse?

Erzählkunst

Dass die Schilderungen dieser Prozesse so einprägsam sind, liegt an den langen und genauen Recherchen, die die Autorin darüber wie über einzelne Biografien von Arbeitsmigranten angestellt hat. Sie hat in der Figur der Lisa auch sich selbst und eigene Erfahrungen in den Roman hineingeschrieben.

Verena Mermer (Jahrgang 1984) hat drei Jahre in Cluj gelebt und gearbeitet, und man merkt, dass sie die Welt kennt, von der sie erzählt. Aber wie sie auch Elemente ihrer eigenen Biografie fiktionalisiert hat, so wird das ganze Erzählen nie von Fakten erdrückt. Die aus Momentaufnahmen sich zusammensetzenden Figuren, die eine Erzählstimme porträtiert, die sehr viel von ihnen weiß, setzen sich im Gedächtnis und in den Emotionen stärker und nachhaltiger fest als alle Fakten.

Kino im Kopf

Die Autorin überlässt nichts dem Zufall, die Erzählung ist genau kalkuliert. Genau das führt freilich auch zu Schwachstellen. Die vielen Musikzitate und vor allem die langen Filmbeschreibungen passen zwar exakt in den Erzählzusammenhang, aber spätestens wenn die Beschreibung von "Titanic" mit dem drohenden Motorschaden des Busses gegengeschnitten wird, sieht man noch das Reißbrett, auf dem das alles fein säuberlich vermessen wurde. Das nimmt dem Roman etwas von seiner Wirkung. Aber kaum ist man wieder bei den Figuren und ihrem Kopfkino, wird man wieder hineingezogen in ihre Lebenswelten; und ist froh, dass diese Busfahrt sie anfällig gemacht hat für Rückblicke und dass Verena Mermer diese Rückblicke so knapp und genau zu arrangieren versteht.

Service

Verena Mermer, "Autobus Ultima Speranza", Residenz Verlag

Übersicht