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Alejandro Zambra

"Multiple Choice" - Roman als Fragebogen

Das renommierte US-amerikanische Magazin "The New Yorker" hat den chilenischen Schriftsteller Alejandro Zambra als den neuen Star der lateinamerikanischen Literatur bezeichnet, nicht zuletzt weil ihm ganz ungewöhnliche literarische Experimente gelingen.

Mittagsjournal | 03 01 2019

Wolfgang Popp

Der Titel "Multiple Choice" ist wortwörtlich zu verstehen, denn Alejandro Zambra hat seinen Roman tatsächlich in Form eines Fragebogens verfasst und zwar eines ganz konkreten. Das Buch basiert nämlich auf dem Eignungstest für die Universität, den Zambra selbst 1993 ausfüllen musste.

Falsche Demokratie

1993, das war vier Jahre nach dem offiziellen Ende der Pinochet-Diktatur in Chile, nur sollte man, sagt Zambra, dieser Geschichtsbuchversion der Ereignisse nicht allzu viel Glauben schenken.

Alejandro Zambra: "Ich war 14 als nach der offiziellen Geschichtsschreibung die Demokratie zurückkehrte. Doch war Chile 1989 in vielerlei Hinsicht noch immer eine Diktatur. Schon allein, weil der Kerl noch immer Senator auf Lebenszeit war und damit nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Erst als er 1998 in London verhaftet wurde, begann die Diktatur zu bröckeln; zu Ende ging sie jedoch erst mit dem Tod jenes Kerls im Jahr 2006."

Alejandro Zambra

Der Kerl

Bei dem Kerl, dessen Namen Alejandro Zambra das ganze Interview über nicht in den Mund nimmt, handelt es sich natürlich um Chiles Diktator Augusto Pinochet. In seinem Buch "Multiple Choice" schreibt Zambra:

Wichtig ist, dass Pinochet ins Gefängnis kommt, dass er verurteilt wird, dass man ihn ans Messer liefert, wichtig ist, die Toten zu finden, wichtig ist die Bildung.

Lückentext

Tatsächlich stand am Beginn des Romans die Idee, sich mit dieser Übergangszeit und dem Jahr 1993 auseinanderzusetzen. Nach fünfzig Manuskriptseiten hatte Zambra aber das Gefühl, einfach nur eine Geschichte herunter zu erzählen, und nichts Neues zu entdecken.

Da fiel ihm zufällig sein alter Test in die Hände und er begann damit zu spielen und zu experimentieren. So ist der Leser von Zambras "Multiple Choice"-Version jetzt etwa aufgefordert, einen Text zu gliedern, einen Lückentext zu füllen, oder, in der letzten Übung "Leseverständnis", inhaltliche Fragen zu drei Kurzgeschichten zu beantworten.

Die ewige Frage

90 Aufgaben gibt es im Buch, und immer wird vom Leser eine Entscheidung verlangt. Alejandro Zambra: "Mir ging es um die Frage der Zugehörigkeit, die sich in jedem Leben immer wieder aufs Neue stellt. Will ich nur ich sein oder auch Teil eines Wir. Fühle ich mich meiner Familie, meiner Ehefrau, meiner Generation und meinem Land zugehörig. Das ganze Leben basiert auf der fortwährenden Entscheidung, welcher Gruppe ich angehören will und welcher nicht."

Wartezimmer Chile

Bei "Multiple Choice", hat Alejandro Zambra in einem Interview gemeint, handle es sich um ein Buch über die Stille und über den Unterschied zwischen ruhig und ruhig gestellt zu sein: "Wir leben im Land des Wartens, wir leben und warten auf etwas, Chile ist ein riesiges Wartezimmer, und wir werden sterben, während wir auf unsere Nummer warten."

Wer nach dem Gesagten glaubt, bei "Multiple Choice" handle es sich um ein sprödes Buch, der wird rasch eines Besseren belehrt. Alejandro Zambra ist ein begnadeter Erzähler, der die Dinge bei neuen Namen nennt. Keine Prüfungsangst also, was "Multiple Choice" betrifft, denn in diesem Test gibt es nur zu gewinnen und nichts zu verlieren.

Service

Alejandro Zambra, "Multiple Choice", aus dem Spanischen von Susanne Lange, Suhrkamp

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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