Lion Feuchtwanger

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Ein möglichst intensives Leben

Die Tagebücher von Lion Feuchtwanger.

"Ich liebe keine Abenteuer, ich hasse sie", meinte Lion Feuchtwanger (1884-1958) retrospektiv über sein Leben. "Aber ich bin durch sehr viele Erlebnisse durchgegangen, durch frohe und durch bittere. Und zum Schluss ergab sich, dass gerade die bitteren mir zum Segen ausschlugen. Ohne sie hätte ich nicht schreiben können, was ich schreiben musste." Abenteuerlich war es trotzdem, das Leben des Schriftstellers. Wobei die Abenteuer nicht der Persönlichkeit des Autors geschuldet waren, sondern der Zeit, in der er lebte.

Ein widersprüchlicher Charakter

Lion Feuchtwanger war ein jüdischer Großbürgerssohn aus München, der nach dem Ersten Weltkrieg mit der politischen Linken sympathisierte, den jungen Bertolt Brecht förderte und Stalin bewunderte. Seine Romane erreichten Millionenauflagen und machten ihn reich. Als er 1941 in die USA emigrierte, ließ er sich die berühmte Villa Aurora in der Nähe von Los Angeles errichten. Ein Luxusanwesen, in dem heute das deutsche Goethe-Institut untergebracht ist.

Lion Feuchtwanger war also ein höchst widersprüchlicher Charakter. Was ihm wichtig schien, hielt er in Tagebüchern fest - obwohl er stets vorgab, keine zu schreiben und das Genre nicht zu mögen. "Mir sagt es wenig zu, täglich Bilanz zu machen", erklärte er. Tagebücher seien wie Heeresberichte. "Man redigiert die Ereignisse, wie man möchte, dass sie verliefen, nicht wie sie wirklich geschahen."

"Es ist ganz interessant, dass er ganz ehrlich mit sich selber ist", sagt Michaela Ullmann, eine der drei Herausgeberinnen der jetzt erschienenen Tagebücher.

Erhalten sind Feuchtwangers Tagebücher aus den Jahren 1906 bis 1940, mit größeren Lücken in den zwanziger Jahren. Gefunden wurden sie bereits 1991, bei der Wohnungsauflösung von Feuchtwangers letzter Sekretärin in Los Angeles.

Ein Konvolut in Gabelsberger-Kurzschrift

Dass sie erst jetzt zumindest auszugsweise publiziert wurden, hat verschiedene Gründe: Man wollte das Konvolut bearbeiten und "in Form einer Leseausgabe" zugänglich machen, also Wiederholungen und floskelhafte Notate streichen, den Aufzeichnungen einen umfangreichen Anhang mit Anmerkungen und kommentiertem Personen- und Werkverzeichnis hinzufügen - und musste diese vor allem erst einmal entziffern, denn Feuchtwanger schrieb seine Tagebücher ab den 1930er Jahren in der sogenannten "Gabelsberger-Kurzschrift", die heute kaum einer mehr beherrscht.

"Ein Großteil der Transkription erfolgte in den 90er Jahren. Es blieben aber einige Stellen offen, die wir jetzt mühsam nachtragen konnten", Nele Holdack, Herausgeberin und Lektorin

Erotische Buchführung

Feuchtwanger und die Sexualität: das ist ein zentrales Thema dieser Tagebücher, die erkennbar ohne literarischen Anspruch geschrieben sind - knappe, stichpunktartige Notizen, die wohl als Gedächtnisstütze fungieren sollten. Sie begleiten seinen Weg von der Schwabinger Boheme bis zum Internierungslager in Südfrankreich, berichten über Bekanntschaften und Leseerlebnisse, Reisen und Kasinobesuche, über die finanziellen Schwierigkeiten der frühen und den Wohlstand der späteren Jahre.

Scheußlich, wie der Bock in mir immer wieder zum Durchbruch kommt.

Auch zeitgeschichtliche Ereignisse werden erwähnt, aber kaum einmal kommentiert - wie überhaupt der vorherrschende Duktus ein stenogrammartiger ist. Wahrscheinlich war bei all den literarischen Projekten Feuchtwangers, bei all den Theater-, Bordell- und "Torggelstuben"-Besuchen einfach keine Zeit für ausführlichere Beschreibungen.

"Er hat ganz gezielt geschrieben", so Marje Schuetze-Coburn, Mitherausgeberin

Feuchtwangers Tagebücher rekapitulieren nüchtern und knapp, fast wie im Zeitraffer, dreieinhalb Jahrzehnte eines bewegten Jahrhunderts, erlebt aus der Perspektive eines manischen Erotomanen und literarischen Workaholics, des erfolgreichsten deutschen Schriftstellers seiner Zeit. Sie mögen ein Licht auf den Menschen Feuchtwanger werfen und sein Ideal eines "möglichst intensiven Lebens". Zum Verständnis seines Werks ist ihr Beitrag eher gering.

Service

Lion Feuchtwanger, "Ein möglichst intensives Leben - Die Tagebücher", Herausgegeben von Nele Holdack, Marje Schuetze-Coburn und Michaela Ullmann unter Mitarbeit von Anne Hartmann und Klaus-Peter Möller, Aufbau Verlag

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