Buch des Monats

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Juni

Jens Balzer, "Das entfesselte Jahrzehnt"

Der Berliner Journalist und Popkritiker analysiert in seinem neuen Buch die Mentalitätsgeschichte eines Jahrzehnts, im dem alle Ängste, die uns heute umtreiben, ihren Anfang und positive Zukunftsvisionen ihr Ende nahmen.

Ex libris | 26 05 2019 | Gespräch mit Jens Balzer

Peter Zimmerman

Die Siebzigerjahre, das ist für Menschen im mittleren Alter eine fast noch an der Gegenwart hängende Phase. Vermutlich deshalb, weil man da besonders starke oder überhaupt erste kulturelle Prägungen erfahren hat, die gewissermaßen im Fundament der eigenen Existenz einzementiert sind.

Ausschnitt von etwas Formlosen

Nun ist ein Jahrzehnt nichts, was für sich steht, sondern nur ein Ausschnitt von etwas Formlosen, Fließendem. Dennoch gibt es da eine Klammer, die die Siebzigerjahre umfasst, und das ist die Vorstellung, die man damals von der Zukunft hatte. Man ging optimistisch in dieses Jahrzehnt hinein und verließ es pessimistisch in Richtung Achtziger. Stichwort "No Future!"

Die späten Sechzigerjahre waren einerseits geprägt von technischen Möglichkeiten, die unaufhaltsamen Wohlstand versprachen, andererseits von Absetzbewegungen aus autoritär empfundenen Verhältnissen. Das war die Love-and-Peace-Haltung der Hippies und die Politisierung eines Teils der Jugendlichen angesichts des Vietnamkriegs und der Verdrängung des Nationalsozialismus. Kurzum: die Siebzigerjahre begannen mit einem ordentlichen Schwung, weil alles zwischen Hedonismus und Liberalismus machbar schien.

Kippeffekt ab Mitte der 70er

Mitte der Siebzigerjahre ist ein dann Kippeffekt wahrzunehmen. Begriffe wie Demokratisierung oder Klassenkampf treten in den Hintergrund. Plötzlich geht es um Ökologie, um begrenzte Ressourcen, um die Ausbeutung des Planeten. In der westlichen Welt wird der Preis des Wohlstands diskutiert. Und - zweites großes und nachhaltiges Thema bis heute - die Geschlechterfrage.

Die ausgehenden Siebziger muten dann eher düster an: Punk mit all der damit verbundenen Destruktion, die Wiederbelebung und Fetischisierung von Naziästhetik, Atommüll als unendliche Bedrohung. Zugleich aber - und das ist das Neue - beginnt eine Form der Vernetzung, unterstützt durch digitale Technologie, die neue Zukunftsperspektiven ermöglicht.

Service

Jens Balzer, "Das entfesselte Jahrzehnt - Sound und Geist der 70er", Rowohlt Berlin