Stacheldraht

APA/HELMUT FOHRINGER

Journal-Panorama

Ein Grenzgang - Reportage zur Wahl

In der Schlussphase des Wahlkampfs heizen Drohgebärden aus Ankara das Thema an: Der Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei wird strapaziert, die FPÖ beschwört die Bilder von 2015, als Hunderttausende über die sogenannte Balkan-Route gekommen sind. Die ÖVP, die 2017 den ganzen Wahlkampf mit der angeblichen Schließung dieser Route bestritten hat, war in der Frage diesmal zurückhaltend.

Migration und Asyl, das ist bei dieser Wahl nur ein Thema von vielen. Die Zahl der Asylwerber ist auf dem Niveau von 2006, die Zahl der Aufgriffe illegaler Grenzgänger sinkt. Geblieben sind Grenzkontrollen und ein restriktives Klima, das Folgen hat.

Eine Bestandsaufnahme

Kärntner Polizisten mit italienischen Kollegen auf Streife im Zug von Tarvis nach Villach. Sie schauen, ob jemand keine gültigen Papiere hat. Für viele Reisende ist das immer noch ungewohnt.

Wir gehen halt durch, stichprobenweise, wenn da offensichtlich EU-Bürger sind, schauen wir nicht jeden an, weil wir nur ein paar Minuten haben.

"Das ist ein Rückschritt, den wir in Europa haben. Ich habe es sehr genossen, an Grenzen nicht kontrolliert zu werden und auf einmal erleben wir wieder Kontrollen, das finde ich erschreckend", sagt ein deutscher Radtourist im Zug. Die Polizisten fischen einen Pakistani – "wir haben da jetzt einen Illegalen" - aus dem Abteil. "Nur weil er eine dunkle Hautfarbe hatte - das war ganz schön schockierend. Aber leider Realität", so ein weiterer Deutscher.

Ein Pakistani im Zug nach Villach

Dabei ist die Zahl der Aufgriffe von Personen ohne gültige Aufenthaltspapier und die Zahl der Asylanträge stark gesunken: Im Jahr 2015 beantragten mehr als 88.300 Personen in Österreich Asyl. 2016 waren es 42.000. Und 2017 noch 24.700. Im Vorjahr haben 14.000 Menschen Asyl beantragt. Österreich zählt anders als vor wenigen Jahren nicht mehr zu den Top-Zielländern der Schlepper, das geht aus dem Schlepperbericht 2018 hervor. Die Entwicklung der Kampfhandlungen in Syrien und vor allem der EU-Türkei-Pakt waren entscheidend, dass sich die Migrationsbewegung entschärft hat.

Das Versagen der EU in der Ägäis

Wobei der Pakt mit der Türkei nicht für alle funktioniert. In Griechenland ist die Lage unverändert dramatisch, und die Ankünfte von Menschen etwa auf der Insel Lesbos nehmen gerade wieder zu. "Da stecken wir fest", sagt der Migrationsexperte Gerald Knaus, der als der Erfinder des EU-Türkei-Pakts gilt. Die EU-Partner hätten weggeschaut und Griechenland alleingelassen, wo auf den Inseln laut der Organisation "Pro Asyl" rund 25.000 Menschen ausharren.

Die vermehrten Ankünfte aus der Türkei sind auch im österreichischen Wahlkampf kurz angeklungen. Jetzt hört man starke Töne gegen Präsident Erdogan. Gerald Knaus rät dazu, sich mit Ankara, aber auch mit Athen an einen Tisch zu setzen. Denn wenn der Deal der EU mit der Türkei platzen sollte, würden alle verlieren.

Gerald Knaus

Was Libyen betrifft, haben wir mit der neuen italienischen Regierung eine zweite Chance, da Matteo Salvini (Lega, Anm.) nicht mehr Innenminister ist.

"Grenzkontrollen völlig untauglich"

Die Kärntner Polizisten, die im Zug kontrollieren, gehören wie ihre Kollegen an den Grenzen zu Ungarn und Slowenien – wo mit Hilfe des Bundesheers direkt überwacht wird – zur Spezialeinheit PUMA. Ein Name, den der frühere Innenminister Herbert Kickl von der FPÖ öffentlichkeitswirksam erfunden hat. Die Einheit hat es unter anderem Namen schon gegeben.

Polizeischild mit der Aufschrift "Grenzkontrolle"

APA/BARBARA GINDL

Die Sinnhaftigkeit der Binnen-Grenzkontrollen ist umstritten. FPÖ, ÖVP und SPÖ sind dafür. Migrationsexperte Gerald Knaus hält sie für verzichtbar:

Als Mittel, um irreguläre Migration zu stoppen, ist das vollkommen untauglich. Das wissen alle Grenzschützer.

Die NEOS sehen das auch so, sie haben gegen sechs Staaten, darunter Österreich und Deutschland, bei der Europäischen Kommission Beschwerde wegen der Grenzkontrollen eingebracht.

Kurz schloss die Wahlkampfroute

Wahltechnisch spielt das Thema Migration keine herausragende Rolle, es ist ein Thema von vielen. Hatte ÖVP-Chef Sebastian Kurz im Wahlkampf 2017 noch in praktisch jeder Antwort die Schließung der Balkan-Route untergebracht, so ist das diesmal nicht der Fall. Der ÖVP-Chef ist auf der Meta-Ebene, bei jedem Wahlkampf-Auftritt bemüht er die Identität Österreichs, während die FPÖ wie gewohnt mit der Tür ins Haus fällt, die Bilder von 2015 beschwört und vor einem neuerlichen Ansturm von Asylwerbern warnt.

SORA-Wahlforscher Christoph Hofinger nennt ein Potenzial von 500.000 Wählern, die sowohl für die ÖVP als auch für die FPÖ zu haben wären. Um die wird jetzt gekämpft und taktiert, Sebastian Kurz hätte am liebsten alle FPÖ-affinen Wähler und Wählerinnen und tut alles, um der FPÖ bei ihrem Leib- und Magenthema Migration - das immer auch seines war - jetzt nicht in die Hände zu spielen. Daher die Zurückhaltung.

Harte Zeiten für die Integration

"Das lange Warten ist immer noch ein Thema leider in den Asylverfahren in Österreich. Und auch Probleme mit der Sprache - wie soll es anders sein? Deutsch ist nicht so leicht zu lernen", sagt Marcel Leuschner – er ist für die Flüchtlingsarbeit der evangelischen Diakonie in Kärnten zuständig. Bei einem Lokalaugenschein in einem Wohnprojekt in Villach erzählt Leuschner, wie schwierig es war, das Zusammenleben von Geflüchteten mit österreichischen Familien zu organisieren. Integration in einem Klima der Restriktion, das ist doppelt schwierig, sagt Anny Knapp von der Asylkoordination: "Man muss sich ja auch angenommen fühlen, um das Gefühl zu haben, hier will ich bleiben und alles tun, um wieder von vorne zu beginnen."

"Fast schikanöse Rückkehrberatung"

Rückkehrberatung in allen Phasen des Asylverfahrens, die fast schon schikanös anmute, immer noch viel zu lange Verfahren und schlechte Entscheidungen in der ersten Instanz, wo 40 Prozent der Bescheide aufgehoben werden. Das alles zermürbe die Menschen, sagt Anny Knapp. Und zwar nicht nur die Schutzsuchenden, sondern auch deren Rechtsberater. Einer von ihnen ist der renommierte Grazer Anwalt Ronald Frühwirth, Spezialist für Asylverfahren in zweiter Instanz.

Mit Jahresende schließt Frühwirth seine Kanzlei: "Warum ich aufhöre? Weil ich nicht mehr an die Effektivität dieses Rechtssystems glaube, was den Umgang mit Asylsuchenden betrifft." Es werde in den Asylverfahren willkürlich und unfair vorgegangen, kritisiert Frühwirth eine Entwicklung, die aus seiner Sicht schon 2016 eingesetzt hat.

Sorge wegen des neuen Asylsystems

Durch die neue staatliche Rechtsberatung dürften sich die Probleme für Asylwerberinnen und Asylwerber in Österreich noch verschärfen, meint der Anwalt. Noch von der ÖVP-FPÖ-Regierung wurde ja die so genannte Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen beschlossen. Diese soll künftig auch die Rechtsberatung von Asylwerbern übernehmen - und ist dem Innenministerium unterstellt.

Ob dessen Rechtsberater tatsächlich unabhängig und objektiv arbeiten werden? Anny Knapp von der Asylkoordination sieht das kritisch:

Da wird ein hermetisch abgeschlossener Bereich entstehen, wo Zivilgesellschaft und NGOs nicht mehr sehen können, was da abläuft.

Dass dieser Effekt beabsichtigt ist, hat die gescheiterte Regierung nie verheimlicht.

Nicht immer Routine für die Polizei

Die Kärntner Grenzpolizisten, die im Zug einen Mann aus Pakistan aufgespürt haben, sind zurück im Wachzimmer. Beide waren schon 2015 im Einsatz. Neu in der Außenstelle des Kommissariats am Bahnhof Villach ist ein junger Kollege - er hat in der Nacht einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aufgegriffen, der versucht hat, von der Erstaufnahmestelle Traiskirchen nach Italien zu gelangen.

Die Polizisten haben sich an ihre Arbeit gewöhnt: "Das ist Routine, absolute Routine. Wenn sie Kinder haben, tut es mir oft leid. Aber das ist genauso abzuarbeiten." Und der junge Polizist? "Ich bin noch nicht so lange dabei, aber es wird auch immer mehr zur Routine. Außer so etwas wie jetzt, so ein spezieller Fall mit einem Minderjährigen. Das haben wir eher selten, aber man kommt da schon hinein. Passt schon."

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