Möwen in einer nebligen Landschaft

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Roman von Paulus Hochgatterer

Fliege fort, fliege fort

Paulus Hochgatterer ist Kinder- und Jugendpsychiater, und er ist einer der bedeutendsten österreichischen Autoren. Die seelischen Abgründe kennt er ebenso genau wie sein Berufskollege Raffael Horn, Protagonist zweier erfolgreicher Romane. Schon zwei Mal war er dem Bösen auf der Spur: 2006 in "Die Süße des Lebens" und 2010 in "Das Matratzenhaus". Und jetzt ist wieder was passiert in der fiktiven Provinzstadt Furth. "Fliege fort, fliege fort" heißt sein neuer Roman.

Wir sind wieder in Furth - eine Idylle am See könnte man meinen, aber Furt, das ist ein Ort des Schreckens. Hier leben verzweifelte Jugendliche, Selbstmörder, geschlagene Frauen und misshandelte Kinder. "Die gibt's wohl überall", meint Paulus Hochgatterer, "aber in Furth liegt all das unter einer dünnen Decke, das macht das Milieu der Kleinstadt literarisch so reizvoll."

Paulus Hochgatterer

Paulus Hochgatterer als Festredner bei der Ö1 Hörspiel-Gala 2018

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Der Kommissar und der Jugendpsychiater

In Furth begegnen wir nicht nur dem Kommissar Ludwig Kovacs wieder, sondern auch dem Jugendpsychiater Raffael Horn - die beiden kennen wir seit 13 Jahren aus den Hochgatterer-Romanen "Die Süße des Lebens" und "Das Matratzenhaus". Diesmal geht es um eine Kindesentführung, um schwer misshandelte alte Menschen, die seltsamerweise leugnen, dass ihnen etwas angetan wurde, und in Rückblenden führt die Handlung immer wieder in ein Kinderheim, an einen Ort sadistischer Gewalt, psychischer Demütigungen, drakonischer Strafen und sexuellem Missbrauch.

Der Siegelring

"Die Kinder, denen die Dinge widerfahren, wie sie in dem Buch geschildert werden, die sind als Erwachsene gedemütigte und daher demütige, geknechtete, depressive Menschen", sagt Paulus Hochgatter. "Sie haben nicht die Kraft, sich zu rächen, wie wir es als Leser und Schreibende tun würden" - wenn nämlich im Lauf der Erzählung klar wird, was sich hinter Begriffen wie "der Siegelring", "der Einzug nach Jerusalem", "die Decke", "der Herzschlag" oder "die Wiederverwertung" verbirgt. - Als Vorsitzender des niederösterreichischen Opferschutz-Beirats hat Paulus Hochgatterer die erschütternden Berichte ehemaliger Heimkinder gehört.

Trauer, Wut und Ohnmacht

"In mir als Autor und als Psychiater erzeugt das einerseits die Gefühle, die diese Kinder vermutlich damals hatten, und andererseits jene Gefühle, die sie nicht haben konnten. Das heißt man wird deprimiert, traurig, man bekommt Angst und eine ungeheure Wut auf die Täter und auch auf die Rahmenstrukturen, die es erlaubt haben, dass es diese Täter gegeben hat." Und es bleibt ein Gefühl der Ohnmacht, fügt Hochgatterer hinzu, gepaart mit dem Bedürfnis "diese großen Kinderheime, die es glücklicherweise heute nicht mehr in dieser Form gibt, in die Kluft zu sprengen."

Ein beunruhigendes Buch, das lange nachhallt

Der Roman, das ist für Paulus Hochgatterer auch ein Transportmittel: Der Kriminalfall sei eine Möglichkeit, "den Kindern dazu zu verhelfen, ihre Geschichten zu erzählen, ihre Angst, ihre Wut und ihre Verzweiflung zu artikulieren und - was sie nie tun konnten - Rache zu üben." Ludwig Kovacs und Raffael Horn können sich zu guter Letzt zurücklehnen, der Fall ist gelöst, nicht aber für den Leser, die Leserin. "Fliege fort, fliege fort" ist ein packender und virtuos komponierter Roman, ein beunruhigendes Buch, das lange nachhallt.

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Paulus Hochgatterer, "Fliege fort, fliege fort", Roman, Deuticke

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