Valeria Barbas

ORF/RAINER ELSTNER

Klang-Tsunami

Höhepunkte Neuer Musik aus Moldawien

Die Komponistin Valeria Barbas ist ein wahres Multitalent – sie hat Gesang und Komposition studiert, arbeitet als Bildende Künstlerin und moderiert im moldauischen Fernsehen eine wöchentliche Kultursendung. In ihrer wissenschaftlichen PhD-Arbeit mit dem Titel "Intercultural Dialogue in the frame of the New Music Days International Festival from Republic of Moldova", die mittlerweile als Buch erschienen ist, hat sie das einzige Festival für zeitgenössische Musik in Moldau untersucht, die 1991 gegründeten "Tage Neuer Musik" in Chisinau. Für Ö1 stellt Valeria Barbas die wichtigsten Werke der Neuen Musik der vergangenen Jahre vor.

Um die aktuelle Situation im Land zu verstehen, muss man sich die Entwicklung unter dem Sowjet-Regime vor Augen halten. "Die kulturelle Ausrichtung der Sowjetischen Zeit hat die Kompositionsszene stark beeinflusst", berichtet Barbas. "Die Matrix einer Mono-Kultur war aus dem Blickwinkel der Kreativität und gesellschaftlicher Unabhängigkeit ein zerstörerisches Phänomen. Es gab Zensur und strikte künstlerische Vorgaben der Partei. Wie die moldawische Musik klingen sollte, wurde also von außen bestimmt."

Verbotene Musik

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sind mit der Gründung eines Festivals für Neue Musik im Jahr 1991 zeitgenössische Strömungen in Moldau wirksam geworden. Es gab großen Aufholbedarf, die zur sowjetischen Zeit verbotene Musik kennen und verstehen zu lernen. Werke von Schönberg, Webern, Henze, Maderna, Penderecki, Ligeti, Xenakis, Cage, Schnittke und Gubaidulina sind in Moldawien erst bei den New Music Days erstmals öffentlich erklungen.

Gegründet hat dieses Festival Ghenadie Ciobanu - der Komponist war 1997 bis 2001 parteiunabhängiger Kulturminister in der Regierung der Post-Kommunisten und später vier Jahre lang im Parlament für die Liberaldemokratische Partei Moldaus. Das Festival war und ist die wichtigste Veranstaltung mit zeitgenössischer Musik in der Republik Moldau.

Ciobanu gab die Richtung vor

So ist beginnt denn auch Barbas ihre musikalische Rundschau mit einer Komposition des wohl einflussreichsten moldawischen Komponisten der Gegenwart: "Ateh, oder die Offenbarung einer Chasarischen Prinzessin" von Ghenadie Ciobanu, eine Oper für eine Sängerin mit Ballett.

"Ghenadie Ciobanu ist einer der bedeutendsten Komponisten des Landes", erklärt Barbas. "Er war auch Präsident des Komponistenverbands und des Verbands der Musikwissenschaftler, er war Kulturminister – und er ist eine der führenden Figuren des Kulturlebens. Er hat in gewisser Weise der zeitgenössischen Musik die Richtung vorgegeben – auch mit der Gründung des Ensembles Ars Poetica, ein Ensemble, das auf zeitgenössische Musik spezialisiert ist. Seine monodramatische Oper mit Ballett nach einem Werk von Milorad Pavić wurde 2005 uraufgeführt. Sie ist kammermusikalisch, hat eine intime Atmosphäre. Man hört hier ein archetypisches Denken, das typisch ist für den Stil von Ghenadie Ciobanu. Man kann es hier unterteilen in modale Archetypen und rhythmische Archetypen. Ciobanu nimmt diese kleinen Muster und konstruiert daraus die ganze Struktur." Es sei nichts weniger als die Wiedergeburt archaischer Rhythmen mit modalem Gesang. Zudem ist die Intonation nicht immer temperiert, es gibt auch fließende Übergänge in der Intonation.

Neues Leben für ein belastetes Genre

Valeria Barbas setzt ihren Rundgang durch die Moldawische Musikgeschichte der letzten Jahre fort mit einem in der Sowjet-Zeit sehr populären und politisch gewichtigen Genre: der Kantate. Ihr Untersuchungsgegenstand ist "Die Essenz der Worte" von Oleg Palymski aus dem Jahr 2012. "Natürlich hat sich über die Zeit hinweg das Genre der Kantate weiterentwickelt", so Barbas. "Dieses Werk ist ein Beispiel für eine neue Richtung, eine neue Sakralmusik. Es gibt dafür viele internationale Vorbilder, von Schönberg über Henze und Stockhausen, Webern bis hin zu Gubaidulina. Im Falle von Oleg Palymski spielen verschiedene Tendenzen eine Rolle, die seine Musiksprache beeinflusst haben – neoklassische Tendenzen, Neo-Barock und post-serielle Techniken wie freie Dodekaphonie - und aleatorische Elemente sind auch von Bedeutung für ihn."

Palymski gehört zu einer Generation von Komponisten, die vom Gründungsjahr 1991 an bei den New Music Days vertreten waren. Dazu gehört auch Vladimir Belyaev. 2013 wurde seine Passion für Orgel und Orchester uraufgeführt. "Konzeptuell ist sie verwandt mit den Passionen des 21. Jahrhundert, ein Werk-Kanon, der auch zu uns vorgedrungen ist", erläutert Barbas. "Als musikalisches Genre sind diese Passionen sehr verbunden mit neoklassischen Tendenzen." Die Uraufführung ist ihr noch in bester Erinnerung: "Ein großer Klang-Tsunami überflutete uns durch die chromatischen Wellen der Verzerrung, die man hier hören kann. Und – man merkt es gar nicht zu Beginn – in dieser Klang-Welle gibt ständig dieses SOS-Signal. Es wird immer deutlicher hörbar, führt uns weg von der Verzerrung. Schließlich verlässt man die Erde und das ganze Schlamassel und beginnt abzuheben, zu schweben. Man könnte das als Hilfeschrei der Menschheit hören. Das Stück kollabiert mehrere Male. Und am Schluss bleibt nur das SOS-Signal über."

Experimentelle Spieltechniken

"Der Atem der Blumen" von Iulian Gogu ist eine der Lieblingskompositionen aus den 1990er Jahren von Barbas. "Es ist ein Beispiel für das Experimentieren mit Klängen in dieser Zeit. Gogu ist auch Flötist und er hat auf seinem Instrument mit Multiphonics und verschiedenen Spieltechniken experimentiert. Dieses improvisatorische Denken ist in diesem Werk reflektiert."

Barbas hat auch ein Stück ihres Lehrers Mihail Afanasiev ausgewählt "Er war einer der ersten Komponisten, die sich in den 1990er Jahren mit Tape-Music und elektronischer Musik auseinandergesetzt haben. Das ist überraschend, denn auch hier in Moldawien ist den meisten Menschen nicht bewusst, dass es diesen Komponisten überhaupt gibt und er diese - damals für Moldawien sehr fortschrittliche - Musik geschaffen hat."

Einzigartige Studio-Musik

Zunächst hat Afanasiev mit Tonbändern gearbeitet, dann mit elektronischer Musik. Die nennt er aber "Studio-Musik" und nicht elektronische Musik, weil er sich auf die auf die vielen Instrumentarien bezieht, die ein Studio bietet: "Er ist noch immer sehr aktiv und gibt viele CDs heraus. Er ist noch immer einer der wichtigsten Komponisten. Leider stellt er seine Musik nicht in den Konzerten unseres Festivals vor. Sein Kurs in elektronischer Musik hat mich gelehrt, die Annahme aufzugeben, dass man Klänge nur in temperierter Stimmung denken kann. Ich verstehe Klang jetzt als viel formbareres Material, weit über traditionelle, klassische Instrumentalklänge hinaus."

Gestaltung

  • Rainer Elstner