Wegweiser zeigen in verschiedene Richtungen

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Radiokolleg

Gedankenspiele zur Geschichte

"Was wäre, wenn" ist eine Frage, die uns ständig begleitet. Es sind nicht nur hochgesteckte Ziele oder Tagträume von einem anderen Leben, sondern auch Fragen an das Schicksal, die jeden Menschen beschäftigen. "Was wäre, wenn" ich fünf Minuten später aus dem Haus gegangen wäre? Wenn ich ihn/sie nie getroffen hätte? Ist es produktiv, solche Fragen nach der ungeschehenen Geschichte zu stellen?

Für die Wissenschaft jedenfalls. Das Spekulieren kann eine brauchbare Methode sein, um historische Ereignisse besser zu verstehen.

Was wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? Was wäre, wenn Thronfolger Franz Ferdinand nicht ermordet worden wäre? Die „kontrafaktische Geschichte“ verhandelt hypothetische Fragen wie diese und denkt neuerdings so neuerlich über den Verlauf der Geschichte nach.

"Die Idee, das Geschichte anders hätte ablaufen können, fasziniert uns auf ganz verschiedenen Ebenen. Auf einer Ebene wird das mit Spielen ausgelebt. Vor den Computerspielen gab es Brettspiele mit denen man Weltgeschichte spielen konnte. Aus dem Gedanken "was wäre wenn" hat sich das Genre der Alternativweltgeschichte entwickelt, die alternate History. Am beliebtesten auf diesem Gebiet ist der Zweite Weltkrieg. Was wäre wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten?", sagt der Literaturwissenschaflter Caspar Battegay.

Zum Beispiel, was wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? Philip K. Dick schrieb den wohl wichtigsten Roman "The Man in the High Castle"/"Das Orakel vom Berge" (1962) die Geschichte des Zweiten Weltkriegs um: Die USA verlieren den Krieg und werden von Nazi-Deutschland und Japan besetzt. Im Jahr 2015 hat der Film Dicks Roman wiederentdeckt. Die Serie "The man in the high castle" ist die bis dato erfolgreichste Streaming- Produktion von Amazon.

Werbung für die Serie "The Man in the High Castle"

Die letzte Staffel von "The Man in the High Castle" wurde mit Nazisymbolen auf den Sitzen der Metro beworben. Nach heftigen Protesten mussten diese entfernt werden.

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Die Alternativwelt rund um Hitler könnte aber auch ganz anders aussehen. In Norman Spinrads Roman "The Iron Dream (1972) wandert Hitler in die USA aus und macht dort Karriere als Science Fiction Autor.

"In den USA ist "Nazigeschichte" immer ein Dauerbrenner. Ob man die Geschichte von "The Man in the High Castle" in Deutschland so verfilmt hätte, wage ich zu bezweifeln", sagt die Germanisten Isabel Kranz. In Deutschland würde man das so erzählen: Adolf Hilter erwacht im Jahre 2011 auf einer Wiese in Berlin. HItler feiert ein Comeback in der Mediengesellschaft, wird ein Star und bekommt eine eigene Fernsehshow. So erzählt in dem Buch "Er ist wieder da".

Auch die Frage, was wäre, wenn die Südstaaten den Bürgerkrieg in den USA gewonnen hätten, wird derzeit in den USA heftig diskutiert. Denn zwei Serien greifen das Thema auf. HBO plant die Serie "Confederate" und zeigt was wäre, wenn es die Sklaverei in den Südstaaten noch gäbe.

Und in "Black America", einer Produktion des Internetriesen Amazon bekommen die ehemaligen Sklaven als Reparationszahlung die drei Staaten Louisiana, Mississippi, and Alabama zugesprochen. Der neue Staat New Colonia wird weit erfolgreicher als der Rest Amerikas. Können solche Alternativwelt-Geschichten das politische Bewusstsein schärfen?

Die Statue von Südstaatengenerals Robert E. Lee

In Amerika werden heftige Debatten über die Bürgerkriegsvergangenheit geführt. Dabei stehen oft die Denkmäler von konförderierten Generälen im Mittelpunkt, da sie als Symbol der Sklaverei und des Rassismus angesehen werden. Hier wird die Statue des Südstaatengenerals Robert E. Lee aus einem Park in Dallas entfernt.

AFP/LAURA BUCKMAN

"Es gab große Kritik an der "Confederate"-Serie. Der wichtige amerikanische Autor Ta-Nehisi Coates meinte man brauche diese Geschichte nicht, da Amerika mit den Resultaten der Südstaatenideologie bis heute lebt. Rassismus ist nach wie vor ein Thema und passiert auch in den USA, da braucht man keine Alternativgeschichten. Die Serie "Black America" greift die Forderung auf, dass die Süstaaten endlich Reparationszahlungen für das Unrecht der Sklaverei zahlen müssten. Coates unterstützt diese Forderung", erzählt die Germanisten Isabel Kranz.

Das Kino war seit jeher der Ort, an Fakten und Fiktionen ein kreatives Verhältnis eingingen - bis hin zu einer alternativen Geschichtsschreibung wie sie etwa Quentin Tarantino in "Inglorious Basterds" oder der klassische Western ganz allgemein betrieben hat.

Wie werden im Film Geschichte und Geschichten ineinander gewoben - von bewussten Anachronismen, also der Vermischung verschiedener historischer Ereignisse und Epochen bis zum Trick der Zeitreisen und ihrer Paradoxien, mit unzähligen möglichen Zukünften und Vergangenheiten, je nachdem, was der Held gerade anstellt.

Auch "Alternate History- Konstruktionen seien noch vom Wunsch nach einer, wenn schon nicht heilen, so doch wenigstens kohärenten Welt gesteuert, meint der Filmkritiker und Allrounddenker Georg Seesslen. Solche Fiktionen seien aber in einer Zeit, in der die Weltbilder zerbrechen und die Rezipienten unter Dauermedienbeschuss nicht mehr wissen wo links und rechts und oben und unten ist, kaum mehr aufrechtzuerhalten. Geschichte und Geschichten, die im Sinne der Aufklärung immer ein "vernünftiges" Verhältnis zueinander unterhielten, werden zusehends entkoppelt. In ihrer neuen und aktuellen Form sind die Erzählmuster komplexer geworden.

"Die Filme werden erst dann interessant, wenn sie auch die Leute zeigen, die das fantasieren. Wenn sie zeigen wo die Grenzen solcher Fantasien stecken. Wenn man nicht unterscheiden kann, ob das jetzt ein große Illusion, eine Projektion ist, oder ob wir einfach jemanden zuschauen wie er verrückt wird", meint Georg Seesslen, Filmkritiker und Allrounddenker.

Es gebe eben, sagt Georg Seesslen, seit rund zehn Jahren eine neue Repräsentation von alternativer Geschichte im Film. "Die Randwelten der Aufklärung sind erreicht." schreibt Georg Seesslen. "Die Geschichte geht verloren, und schon gar die vernünftige Beziehung von Story und History. Retten wir also wenigstens etwas von historischer Logik in unsere Traumwelten".