Christoph Schlingensief

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"Bitte liebt Österreich!"

Zum 60. Geburtstag von Schlingensief

Er war Film- Theater- und Opernregisseur, Talkmaster, politischer Aktivist und Parteigründer; er inszenierte in Bayreuth, gründete ein Operndorf in Burkina Faso und wurde 2011 posthum mit dem Goldenen Löwen auf der Kunstbiennale in Venedig ausgezeichnet. Mit seiner Aktionskunst sprengte Christoph Schlingensief alle Genregrenzen. Am 24. Oktober hätte er seinen 60. Geburtstag gefeiert.

Kulturjournal spezial | 23 10 2020

Die Stimmung war bereits aufgeheizt, als Christoph Schlingensief im Juni 2000 seine einwöchige Aktion "Bitte liebt Österreich!" startete. Im Februar 2000 wurde die erste schwarz-blaue Koalition unter Bundekanzler Wolfgang Schüssel angelobt. Die Europäische Union reagierte mit Sanktionen auf die Regierungsbeteiligung der FPÖ. Jeden Donnerstag demonstrierten Regierungsgegner in Wien.

Bitte liebt Österreich!

Auf Einladung der Wiener Festwochen unter Festivalleiter Luc Bondy errichtet Deutschlands bekanntester Theaterprovokateur direkt neben der Wiener Staatsoper ein Containerdorf. Auf dem Container wurde ein Transparent mit der Parole "Ausländer raus!" gehisst.

Die Entgrenzung von Kunst und Leben

Nach dem Vorbild der beliebten Reality-TV-Show "Big Brother" wurde das Geschehen im Inneren des Containers mit Webcams gefilmt und im Internet übertragen. Doch bei den Insassen des Containers handelte es sich nicht um aufstrebende B- und C-Promis, die ihre Privatsphäre aufgaben, um jene viel zitierten 15-Minuten-Ruhm zu genießen, die Andy Warhol jedem Normalsterblichen versprochen hatte, sondern um echte Asylwerber mit gefakten Biografien. Das Publikum wurde dazu aufgefordert, täglich zwei Insassen des Containers "rauszuwählen", soll heißen abzuschieben.

Für Matthias Lilienthal, langjähriger Dramaturg der Berliner Volksbühne, gehört "Bitte liebt Österreich!" zu den zentralen Arbeiten des Aktionskünstlers Christoph Schlingensief: "Man hatte den Eindruck, dass sich ganz Wien vor dem Container versammelte und über die politische Situation in Österreich stritt. Der Boulevard fungierte als Brandbeschleuniger. Die 'Kronen Zeitung' hat 'Piefke raus!' geschrien, und die liberale Reichshälfte der Republik solidarisierte sich mit den Asylwerbern."

Widerstand ist vorbei. Sie müssen Widersprüchlichkeit erzeugen!

Als Erbe Joseph Beuys und seiner Vorstellung der sozialen Plastik propagierte Christoph Schlingensief die Entgrenzung von Kunst und Leben. Die Kunst soll außerhalb der Echokammern der bürgerlichen Repräsentationskultur wirksam werden. "Widerstand ist vorbei. Sie müssen Widersprüchlichkeit erzeugen", lautet das geheime Motto der Aktion, die vor allem durch ihre Uneindeutigkeit bestach. Denn dieses Theater der Handgreiflichkeiten hatte nichts von der wohlmeinenden Didaktik, die wenige Jahre später im so genannten postmigrantischer Theater Schule machen sollte. Prädikat "pädagogisch wertvoll"? Fehlanzeige. Sieben Fehler sind im Bild? Schon eher! So applaudierte ein linksliberales Kunstpublikum, während ein Transparent mit der Aufschrift "Ausländer raus" enthüllt wurde, die FPÖ hingegen lief Sturm gegen eine Aktion, die ihre eigene fremdenfeindliche Parole kopierte und öffentlich zur Schau stellte.

Theater der Handgreiflichkeiten

Die Passanten, deren Wut sich vor dem Containerdorf entlud, die Donnerstagsdemonstranten, die nach einigen Tagen den Container stürmten und das Transparent "Ausländer raus!" entfernten, der empörte Boulevard, echte Asylwerber mit fiktiven Biografien, Schauspieler und Laien: Sie alle wurden Teil einer Inszenierung, die die realpolitische Wirklichkeit zur Kenntlichkeit verzerrte.

Wenn sich das Theater in die Realität einschreibt, das hat Schlingensief gezeigt, kann es zur nationalen Gruppentherapie werden, die der Vorstellung der antiken Katharsis erstaunlich nahekommt. Kurz bevor digitale Distributionskanäle und virtuelle Kommunikationsformen eine neue, eine digitale Realität schufen, machte Schlingensief das Megafon zum Versatzstück eines Theaters, das in den öffentlichen Raum ausstrahlt.

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