Gunther Wawrik sitzend

Claudia Mazanek

Baukultur

Gunther Wawrik und die fiktive Stadt

Der österreichische Architekt Gunther Wawrik ist im Herbst 90 Jahre alt geworden - und er sprüht immer noch vor Ideen zu unserer gebauten Umwelt. Das veranschaulicht ein Buch, das der Verein Diachron herausgebracht hat: "Die Bergstadt" ist eine Fiktion, die Wawrik in den letzten Jahren entwickelt hat, ein Gedankenspiel, das dazu anregt, unsere Städte in ihren Funktionsweisen zu hinterfragen.

Gunther Wawrik, geboren 1930, gehört zu jener Generation Architekten, die die Baukultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Österreich belebt und geprägt haben - sie haben alte Strukturen hinterfragt, frische Initiativen gesetzt, waren offen gegenüber neuen Strömungen, Konstruktionsweisen und Materialien, und schließlich sie haben ihr Wissen und ihre Denkweisen an die nächste Generation weitergegeben.

Was passt mir in der Stadt nicht so gut, was wäre am Berg anders?

Hans Hollein, Wilhelm Holzbauer, Hermann Czech und Friedrich Kurrent waren und sind seine Zeitgenossen - Architekten, die während des Krieges oder danach studiert haben, die dann aber die Aufarbeitung der österreichischen Moderne angetreten haben. "Das hat sich auch in der Gründung der ÖGFA, der Österreichischen Gesellschaft für Architektur, ausgedrückt, deren Vorstand Gunther Wawrik selbst auch war", meint die auf Architektur spezialisierte Lektorin Claudia Mazanek, die gemeinsam mit Eva Guttmann und Gabriele Kaiser das Buch "Die Bergstadt - Eine Fiktion" herausgegeben hat.

Skizze der Bergstadt

Die Bergstadt entlang der Radialstrassen, Stadtpartikel

Archiv von Gunther Wawrik

Eine Fiktion mit konkreten Formen

Das Buch enthält Zeichnungen, Notizen, Fotos und Aufnahmen eines Modells - alles Material, das die Idee der Bergstadt untermauert und nährt, die Gunther Wawrik in den letzten Jahren entwickelt hat. Aus Interesse und als Hobby, aber nicht als Patentrezept für eine Stadt der Zukunft, wie er betont: "Das war keinesfalls ein Projekt in dem Sinn, dass ich mir überlegt habe, wie könnte man die Stadt bauen, sondern wie wäre das, wenn es eine Stadt wäre. Was könnte man von ihr verlangen, von der Stadt? Das hat sich im Laufe der Zeit entwickelt zu einer Stadtkritik - was passt mir in der Stadt, in der ich jetzt lebe, nicht so gut, und was wäre am Berg anders?"

... den Verkehr vergnüglich gestalten - wie auf einer Urlaubsfahrt ...

Was am Berg anders wäre, das ist zum Beispiel die Aussicht. Oder auch der Verkehr. Denn da die Verkehrswege in der Realität oft als lästig und als Zeitverschwendung wahrgenommen werden, schlägt Wawrik vor, den Verkehr vergnüglich zu gestalten - wie auf einer Urlaubsfahrt, bei der man gerne aus dem Fenster schaut. In der Bergstadt fließt der Verkehr daher extrem langsam und es gibt weder Gegenverkehr noch Kreuzungen. "Das ist etwas, was das Leben völlig verändern würde, aber eben weitab jeder Realität ist."

Schichtplan des Berges.

Schichtplan des Berges

Archiv von Gunther Wawrik

Andere Fragen, die ihn beschäftigten, sind: Wie ist der Stadtrand ausgebildet? Wie betritt man diese Stadt, wie verlässt man sie? Per Auto oder im Flugzeug? Wird man dabei emotional erfasst?

Obwohl als Fiktion deklariert, hat die Bergstadt doch auch ganz konkrete Formen angenommen. Mithilfe von Wawriks Studenten wurde sie als gebaut. Ohne jedoch den einzelnen Bauwerken der Bergstadt Funktionen zuzuweisen: Was sie enthalten oder wie die Fassaden ausgestaltet sind, ist nicht festgelegt. Claudia Mazanek: "Diese Ausgewogenheit zwischen konkreten Ideen, wie das sein könnte oder sollte, und dem Offenlassen von jeder reellen Funktion, das ist eigentlich das interessante daran. Man hat immer die Möglichkeit weiterzudenken und nicht stehenzubleiben oder sich zu verheddern in einem Realisierungszwang."

Archiv von Gunther Wawrik

Die Stadtterasse

Die Stadtterasse

Autobiografische Anklänge

Anders als bei Städten, deren Struktur einem Raster folgt, wächst die Bergstadt aus der Topografie des Berges. Anhand der Form eines tatsächlichen Hügels in der Nähe von Straßburg und mithilfe touristischer Landkarten hat Gunther Wawrik die Erschließung der Stadt geplant: "Da hat sich eine Entwicklung des Straßennetzes ergeben, wie Wegebauer im Gebirge Pfade bauen. Sie gehen der Topografie nach. Es ist nicht ein Raster, der drübergelegt ist, sondern ein aus der Topografie gewachsenes Straßennetz."

Collage aus Häusern

Hundert Häuser im Ö1 Archiv

In dem konstruktiven Umgang mit der vorhandenen Topografie sieht Claudia Mazanek eine Verbindung zu dem wohl berühmtesten Bauwerk, das Gunther Wawrik gebaut hat, gemeinsam mit seinem Büropartner über zwei Jahrzehnte, dem Architekten Hans Puchhammer: die sogenannte Goldtruhe in Brunn am Gebirge von 1964 - eine terrassierte Wohnsiedlung, die als eine der ersten verdichteten Wohnbauten mit engem Bezug zu Natur und hoher Lebensqualität reüssierte.

Ebenfalls eine Pionierleistung war die Erweiterung des burgenländischen Landesmuseums in Eisenstadt durch Puchhammer und Wawrik in den 1970er Jahren: Ein Häuserblock mit Bürgerhäusern aus dem 17. Jahrhundert wurde um neue Bauteile ergänzt und im Inneren zu einem Gebäudekomplex verbunden, ein immer noch sehenswertes Beispiel dafür, wie alte Bausubstanz durch Gegenwartsarchitektur nicht nur gerettet, sondern aufgewertet werden kann.

Nachdenken über Städte und Berge

Die Anregung zur Entwicklung der Bergstadt brachte vor einigen Jahren der Architekturtheoretiker Jan Tabor, der mit dem "forum experimentelle architektur" die Gründung und Entwicklung einer europäischen Hauptstadt anstrebte und Gunther Wawrik - wie andere Architekten und Künstlerinnen - um skizzierte Ideen zu dieser neu zu errichtenden Hauptstadt mit Namen Urbo Kune ersuchte. Mit einer ersten Skizze für einen real existierenden Berg bei Strassburg, "auf dem sich die EU-Beamten wohl fühlen könnten", war Wawrik nicht zufrieden, "das war natürlich sehr naiv und ich habe es schnell verworfen". Doch nach einiger Zeit kramte er diese erste Skizze hervor; er fand sie interessant und begann mit der Entwicklung der Bergstadt. Als Fallbeispiel ist es bei eben jenem Berg bei Strassburg übrigens geblieben.

Skizze der Bergstadt in Form eimes Kopfes

Archiv von Gunther Wawrik

Die Bergstadt - Der Kopf

Eine weitere, noch länger zurückgehende Inspiration, war sein Aufwachsen im Salzburger Becken: "Das Schauen in dieses Becken, wo ganz am Rand die Stadt Salzburg, das hat mich sehr geprägt. Das Schauen in den Himmel und in die Wolken hinein. Ich habe mich als Kind schon begeistert für die Topografie. Ich bin natürlich auf alle diese Berge irgendwann auch raufgegangen. Das hat mich auch biografisch im Zaum gehalten; ich habe von den Bergen auch Böses erlebt. Insofern glaube ich, sind auch die paar kleinen Geschichten, die in dem Buch drinnen sind, wichtig für meine Erlebnis das Leben in einer Bergstadt."

Eine Hülle aus Natur

Ungewöhnlich ist die fiktive Bergstadt auch wegen des Waldmantels, der sie umgibt und somit eine klare Abgrenzung zwischen urbanem und unbebautem, natürlichem Gebiet vorschlägt. Als Antithese zur gängigen Stadtentwicklung, die erlaubt, dass Städte an den Rändern immer mehr ausfransen und die Zwischen-Gebiete, die weder urban noch ländlich sind, immer mehr Grund einnehmen. "Wir warten heute eigentlich nur mehr darauf, dass die Stadt noch größer und noch größer wird", kritisiert Wawrik, und damit ist eigentlich die Entfernung vom Menschen in der Stadt von der freien Natur so groß, dass man es in einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Alter, gar nicht mehr erleben kann.

"Ich kann heute im Alter mit meinen 90 Jahren nicht mehr hinaus. Ich kann nur mehr in den Stadtpark gehen. Und das ist was anderes; der Stadtpark ist nicht die freie Natur, das ist was anderes", sagt Gunther Wawrik. "Seit ich in Wien lebe, bin ich in der Ebene", sagt Wawrik, dem die hautnahe Erfahrung der Natur und des Berges abgehen. Wichtig findet er, dass für alle Bewohnerinnen und Bewohner der Weg zur freien Natur kurz bleibt, ob das nun das Meer, ein See, der Wald oder eine riesige Wiese ist. Das gilt für die Großstädte der Gegenwart ebenso, wie für die erfundene Bergstadt.

Service

Gunther Wawrik, "Die Bergstadt - Eine Fiktion", herausgegeben und mit einem Nachwort von Eva Guttmann, Gabriele Kaiser, Claudia Mazanek, Park Books

ÖGFA - Text des Architekturtheoretikers Otto Kapfinger zum 90. Geburtstag Gunther Wawriks und zur Buchpräsentation

Gestaltung

  • Anna Soucek

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