Roter Mantel, Buchausschnitt

KIEPENHEUER & WITSCH

"Der Mann im roten Rock"

Der neue Julian Barnes: Mit der Bohème gegen den Brexit

Julian Barnes gilt als einer der vehementesten Brexit-Gegner seines Landes. Sein neues Buch hat er geschrieben, während die Austrittsverhandlungen liefen. "Der Mann im roten Rock", so der Titel, kehrt zwar in die Zeit der Belle Époque zurück, die hat aber so einiges mit dem gegenwärtigen Verhältnis des Vereinigten Königreichs zu Europa zu tun.

"Ein extremer Nationalismus, Antisemitismus und eine große Fremdenfeindlichkeit hätten Ende des 19. Jahrhunderts geherrscht, die damalige Zeit sei also ähnlich schrecklich gewesen wie die heutige", sagte Julian Barnes im "Guardian"-Interview. Durch einen Zufall stieß Barnes aber auf einen Mann, der sich den nationalistischen Strömungen entgegenstellte.

Pozzi, ein vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit ...

... schreibt Julian Barnes über seinen Samuel Pozzi in "Der Mann im roten Rock".

Gedankenreise in die Belle Époque

Anders als in seinem vorherigen Buch "Der Lärm der Zeit" über den Komponisten Dmitri Schostakowitsch, legt Julian Barnes dieses Mal jedoch keinen Roman vor, sondern einen lustvoll durch die damalige Zeit flanierenden Essay.

"Da gibt es längere Passagen mit Zitaten und dann wieder Barnes Überlegungen zu dem Thema und dieser dauernde Stilwechsel sorgt für viel Abwechslung", sagt Gertraude Krüger, die seit mehr als dreißig Jahren Barnes Bücher ins Deutsche übersetzt.

Doktor Herzensbrecher

Wer aber war nun dieser Samuel Pozzi? Als Franzose italienischer Abstammung machte er in Paris Karriere als Arzt und behandelte die Berühmtheiten seiner Zeit. Unter ihnen befand sich auch die ‚göttliche Sarah‘, die Schauspielerin Sarah Bernhardt, mit der er eine Affäre begann. Eine von zahlreichen Affären, die Pozzi im Laufe seines Lebens unterhielt. Was seinem Ruf als Arzt und Wissenschaftler keinen Abbruch tat. So war sein Lehrbuch der Gynäkologie weltweit als Grundlagenwerk anerkannt. Dort, in der Einleitung, fand Julian Barnes einen Satz, der ihn für Pozzi einnahm:

Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz.

Mit dieser Einstellung war Samuel Pozzi der perfekte Wegbegleiter für Julian Barnes bei seinem Ausflug in die Belle Époque.

Was können wir wissen?

Das Bild der Epoche zeichnet Barnes kaleidoskopartig, wechselt zwischen Politischem und Privatem, zwischen Kunst und Skandalen und tastet sich so, detailgenau und lebensnah, zu einem Verständnis der damaligen Gedankenwelt vor.

"Was können wir wissen?, ist eine zentrale Frage für Barnes, und wo es keine Quellen gibt, da sagt er auch ganz offen, und den Satz findet man mehrmals im Buch: Wir wissen es nicht", so die Übersetzerin Gertraude Krüger.

Buchumschlag

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Duell Époque

Julian Barnes beschreibt das politische Geschehen, wie etwa der Dreyfus-Prozess Frankreich spaltete, oder wie England und Frankreich am Rand eines Krieges standen. Genauso dringt er in die Mentalität der Gesellschaft ein, und zeigt anhand der ausufernden Zahl an Duellen deren gewalttätige und neurotische Seite. Der spätere Kriegsminister George Clemenceau focht in seinem Leben nicht weniger als zweiundzwanzig Duelle aus, erfährt man da.

Das Leben der Bohème

Ganz zentral ist für Barnes auch das kulturelle Leben der damaligen Zeit. Da treten Oscar Wilde oder Marcel Proust auf und man liest von der ungeheuren Verkleidungslust der Boheme, die sich vor der Kamera in orientalischen, japanischen oder Renaissance-Gewändern inszenierte. Die Boheme war es auch, die für einen regen Austausch zwischen Paris und London sorgte, während die konservativen Kräfte die Vorbehalte schürten.

"Ich habe sehr stark das Gefühl, dass die Geschehnisse rund um den Brexit der Auslöser für Barnes‘ Beschäftigung mit der Belle Époque waren. Denn er betont immer wieder, wie wichtig die kulturellen Beziehungen damals waren, zwischen Frankreich und England, aber auch zwischen England und dem Rest von Europa", sagt die Übersetzerin Gertraude Krüger.

Der flanierende Blick

Mit Samuel Pozzi hat Julian Barnes einen genialen Dreh- und Angelpunkt gefunden, denn Pozzi ging mit dem französischen Präsidenten auf die Jagd und fuhr mit seinen Dandy-Freunden auf Kunst-Shopping-Tour nach London. So kann Barnes mit Pozzi seinen Blick in alle Richtungen schweifen lassen, und das macht "Der Mann im Roten Rock" zu einem unglaublich schillernden Zeitporträt.

Service

Julian Barnes, "Der Mann im Roten Rock", Kiepenheuer&Witsch

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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