Victory-Finger

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Aufstand in Belarus

Aus Ohnmacht ist Entschlossenheit geworden, Belarus ist von heute auf morgen aus dem Dornröschenschlaf erwacht. - Wie ist das möglich? Was sind die Ursachen? Wie konnte unbemerkt ein so selbstbewusstes Volk heranwachsen?

Mit 39 Jahren bin ich im August 2020 zum ersten Mal zur Wahl gegangen. Zum ersten Mal dachte ich, mit meiner Stimme etwas erreichen zu können. Ich hatte nicht gehofft, dass meine Stimme korrekt gezählt würde - ich bin zur Wahl gegangen, um die anderen Wähler zu sehen und mich ihnen zu zeigen. Wir hatten uns verabredet: Ein weißes Bändchen am Arm, den Stimmzettel zu einer schmalen Ziehharmonika gefaltet - unsere Stimmen sind nicht für Lukaschenko. Später konnten wir es selbst kaum glauben - die durchsichtigen Urnen waren voll mit schmalen Ziehharmonikas - ganz klar die Mehrheit.

Demonstrant wird grob abgeschleppt

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Die Demos der nächsten Tage bestätigen den Eindruck: Wir sind keine unbedeutende oppositionelle Sekte, wir sind das Volk. Die Menschen gehen auf die Straße und verweigern den Gehorsam - so wie bisher kann es nicht mehr weitergehen.

"Wir haben uns vor diesem Sommer nicht gekannt"

- dieser Spruch war immer wieder auf Plakaten in Minsk zu lesen.

Bis zu dem Sommer 2020 schien mein Heimatland Belarus in einer Art Dornröschenschlaf zu verharren. Man hatte sich daran gewöhnt, in einem Land zu leben, in dem Bürger und der Machtapparat parallel existieren, ohne Berührungspunkte. In den 26 Jahren von Aleksandr Lukaschenkos Herrschaft hatte sich zwischen Staat und seinen Bürgern eine tiefe Kluft gebildet. Für viele wurde die innere Emigration zum Normalzustand. Wer seine Haltung verbirgt, wird in Ruhe gelassen und kann in seiner Parallelwelt existieren.

Unverhofft entdeckt Belarus auf einmal sich selbst. Die Demokratiebewegung besteht aus neuen Gesichtern, zu unserer Überraschung sind es Frauen - hatten wir doch gedacht, unser Land sei vom Patriarchat geprägt. Aber als die Männer weggesperrt wurden, entdeckten die Frauen ihre Kraft. Die Kluft zwischen dem in den 1990ern erstarrten postsowjetischen Regime und der von Frauen inspirierten, fröhlich-frechen Demokratiebewegung ist gewaltig und die brutale Gewalt des Regimes gegen den friedlichen Widerstand unerhört.

Demonstranten in Minsk mit Polizei

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Ich habe ProtagonistInnen der neuen Demokratiebewegung getroffen, um zu verstehen, was sie antreibt, und wie im Sommer 2020 so überraschend eine Massenbewegung entstehen konnte.

Swetlana Tichanowskaja mit der belarussischen Diaspora in Berlin.

Swetlana Tichanowskaja mit der belarussischen Diaspora in Berlin.

INGA LIZENGEVIC

Ich habe mit Personen gesprochen, die erst kürzlich im Vorfeld der Wahlen oder gleich danach ihre Haltung zu Lukaschenko und seinem Regime geändert haben. Ich habe Milizionäre kennengelernt, die angesichts der Gewalt gegen Demonstranten den Dienst quittiert haben. Mit Maria Moroz etwa, Unternehmerin aus Minsk, Ivan Kolos, ehemaliges Mitglied einer Miliz sowie mit Oppositionsführerin Svetlana Tikhanovskaja.

Aus unterschiedlichen Facetten entsteht ein Bild vom Umbruch in Belarus.

Gestaltung: Inga Lizengevic