Ein Kind als die Gottheit Vishnu verkleidet

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Tao - aus den Religionen der Welt

Wege der Erkenntnis und liebenden Hingabe - Mystik in den indischen Traditionen

Indien ist die Heimat einer schier unfassbaren Vielfalt von spirituellen und auch mystischen Traditionen. In Indien entstanden die farben- und facettenreichen Hindu-Religionen mit ihren drei monotheistischen Hauptrichtungen Vishnuismus, Shivaismus und Shaktismus, der Buddhismus, der Jainismus und viele mehr.

Aufgrund der vielen bunten Gottheiten mögen die Hindu-Traditionen polytheistisch wirken, im Prinzip glauben die allermeisten aber an einen einzigen Gott, der viele Formen und Gestalten annehmen kann, erklärt die Religionswissenschaftlerin Birgit Heller. „Man kann hier drei große Richtungen unterscheiden, die jeweils eine absolute Gottheit im Zentrum haben. Das kann Vishnu, Shiva oder eine Form der Shakti, der weiblichen Personifikation des Göttlichen, sein.“

Hindu-Pilgerinnen

AP/RAJESH KUMAR SINGH

In diesen Religionen haben sich grob gefasst zwei Formen von Mystik entwickelt: Eine könnte man als Erkenntnismystik, die andere als Liebesmystik bezeichnen. Die Erkenntnismystik kann sich sowohl auf ein personales als auch apersonales Göttliches beziehen und strebt ein intuitives Erkennen dieses Göttlichen an - aus einer meditativen Praxis, aus einer Versenkung ins Selbst heraus.

„Das Ganze findet in einem intimen Kontext zwischen Lehrer und Schüler statt, wo Körperpraktiken wie Yoga eine Rolle spielen. Der Körper wird da teilweise als ein Hindernis betrachtet, der die mystische Erfahrung verhindert und daher kontrolliert werden muss. Auch Meditation ist hier ganz wichtig“, sagt Birgit Heller.

Liebesmystik

Bei der Liebesmystik, der sogenannten Bhakti, richtet sich die fortgeschrittene Schülerin, der Schüler an eine personale Gottheit. Die Wurzeln der Bhakti reichen ins erste Jahrtausend vor der Zeitrechnung zurück, grundgelegt ist sie in der sogenannten Bhagavadgita. Diese zentrale Schrift vieler Hindu-Traditionen hat die Form eines spirituellen Gedichts und zeichnet die spätere indische Liebesmystik bereits vor. Krishna, der Herr, erscheint als Manifestation des einen Gottes, Vishnu.

„Bhakti heißt so viel wie teilhaben oder Anteil geben. Das heißt, der- oder diejenige, der/die sich Gott mit Bhakti zuwendet, hofft eben an der Gottheit teilhaben zu können. Die wiederum dem Menschen an sich Anteil gibt. Das ist ein Beziehungsbegriff.“

Die Bhakti-Bewegungen propagieren ein Gleichheitsideal, das der brahmanischen Gelehrtentradition widerspricht: Jede und jeder, egal aus welcher Kaste, kann demnach durch die liebende Hingabe zum Göttlichen den Kreislauf der Wiedergeburten beenden. Die religiösen Eliten verlieren bis zu einem gewissen Grad an Autorität: „Vor Gott sind alle gleich, auch wenn sie gesellschaftlich nicht als gleich erachtet werden. Innerhalb des religiösen Kontextes sind sie gleich und alle können gleichermaßen das Heilsziel erreichen. Sie müssen nicht, wie man sich das in der klassischen Gelehrtentradition vorgestellt hat, erst als Brahmanen wiedergeboren werden, um dann die Befreiung zu erreichen.“

Buddhistische Mönche in Indien

AP/AIJAZ RAHI

Mystische Erfahrungen im Buddhismus

In eine Welt voller Mystikerinnen und Mystiker ist auch Siddharta Gautama, der spätere Buddha, hineingeboren worden. Gegen manche der vorherrschenden Traditionen hat er sich bewusst gewandt. Ob der Buddhismus nun zu den mystischen Traditionen gezählt werden kann oder mystische Elemente beinhaltet - ist Ansichtssache. Denn weder gehen seine Lehren von einem personalen Gott oder vom Göttlichen noch von einer jedem Menschen eigenen Seele aus.

Aber Mystik ist kein starrer Begriff, es gibt keine letztgültige Definition davon. Und wenn man Mystik weiter fasst und näher hinsieht, gibt es durchaus Anknüpfungspunkte, sagt der buddhistische Religionslehrer, Autor und Yoga-Lehrer Guntram Ferstl. Die Erfahrung der Erleuchtung oder des Erwachens könne man als eine mystische bezeichnen; das Erkennen von und die Verbindung mit der absoluten Wirklichkeit wird auch hier angestrebt.

„Über den Geist öffnen sich dann Inhalte, Erfahrungen, die sonst im Alltagsbewusstsein nicht zugänglich sind."

„Wenn man Mystik so weit fasst, dann ist auch der Buddhismus als Mystik aufzufassen, weil er sich in der Theorie, in der Methode und in der Verbindung zum Absoluten ganz darauf ausrichtet.“ Mit Meditation können solche Erfahrungen der Ganzheitlichkeit und der Einheit erreicht werden. „Über den Geist öffnen sich dann Inhalte, Erfahrungen, die sonst im Alltagsbewusstsein nicht zugänglich sind. Und das ist ja wiederum ganz typisch mystisch, dass Mystiker/innen durch gewisse Praktiken und Methoden in Bewusstseinszustände kommen, die sie dann nur noch schwer in Worte fassen können.“

Guntram Ferstl praktiziert selbst sowohl eine spezielle Richtung des tibetischen Buddhismus, Dzogchen, als auch den in China entstandenen und in Japan weiterentwickelten Zen-Buddhismus. Zen wird in der Stille im Sitzen, im Zazen, mitunter mit diversen Atemtechniken praktiziert. Zen und Dzogchen gehören zum Mahayana, zur jüngeren der beiden Hauptrichtungen des Buddhismus. Dort ist auch ein interessantes Konzept zu finden, das Ähnlichkeiten mit Konzepten in anderen mystischen Traditionen aufweist: die Buddha-Natur, das Potenzial wie Buddha zur Erleuchtung zu gelangen, das demnach jedem Menschen zu eigen ist.

"Jedes fühlende Wesen hat auch eine Buddha-Natur und auch die Möglichkeit, vollkommene Erleuchtung zu erfahren."

Dazu gibt es ein schönes Gleichnis: Eine Bettlerin sitzt auf einem dreckigen Steinklumpen und weiß nicht, dass sich unter der Dreckschicht Gold befindet. Sie sitzt also die ganze Zeit auf großem Reichtum. „Das bedeutet, dass jedes fühlende Wesen Buddha-Natur hat und auch die Möglichkeit, vollkommene Erleuchtung zu erfahren. Diese Buddha-Natur ist immer da, wir sind nie von ihr getrennt, wir können gar nicht verloren gehen. Es ist das ultimative Ja zu Lebewesen“, erklärt Guntram Ferstl. Konnte er also nach vielen Jahren der spirituellen Praxis schon etwas von dieser Buddha-Natur erspüren oder erfahren? „Ich habe einzelne Erfahrungen, wo ich von dieser Zeitlosigkeit und Tiefe der Erfahrung gekostet habe. Zum Beispiel, als ich mehrere Tage gefastet und gleichzeitig intensiv praktiziert habe. Das war so, als wäre Gold über alles darübergelegt. Wenn man mehrere Tage lang sitzt, dann merkt man, dass man in den Frieden und in ein tiefes Liebesgefühl kommt.“

Parallelen

Der Buddhismus- und Yoga-Lehrer erkennt Parallelen zwischen den mystischen Traditionen verschiedener Religionen. Allein die Begriffe, mit denen versucht wird, das Unergründliche zu beschreiben, ähneln einander frappant. Ein Dialog auf Augenhöhe kann so möglich werden: „Es gibt viele Mystik-Forscher, auch Theologen, die in der Mystik ganz viel Verbindendes sehen - wo sich die Religionen ähneln und auch ein Gespräch sehr leicht geht.“

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