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Musik

Wie rassistisch ist die Klassik?

Warum bleiben in Konzert- und Opernhäusern die Weißen unter sich? Hat die sogenannte Klassik koloniale Strukturen noch immer nicht überwunden? Warum gibt es in der Klassik viel weniger "People of Color" als in Jazz und Pop? Ist struktureller Rassismus dafür ein Grund?

Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. "International ist nicht automatisch divers", analysiert die "Neue Musikzeitung" (NMZ) im Februar dieses Jahres. In Deutschland stammen zwar rund 25 Prozent aller Orchestermitglieder aus dem Ausland. Allerdings: "People of Color sind mitten in der deutschen Gesellschaft, aber selten in Berufsorchestern", so die NMZ.

"Identity", Dekolonisation, "Cancel Culture", Exotismus - Begrifflichkeiten wackeln, kulturelle Gewissheiten werden erschüttert. In Bereichen wie der bildenden Kunst oder der experimentellen Clubmusik sind diese Diskussionen bereits seit vielen Jahren ausdifferenziert. In der Klassik fühlen sich manche verunsichert: "Eine Schande" - "Europa schafft sich ab" - "Die Europäer haben den Kontakt zu sich selbst verloren", so lauten einige der Facebook-Postings aus der österreichischen Musikszene nach einem Bericht über den Vorschlag, die musikalische Lehre der Universität Oxford auf eine kulturell breitere Basis zu stellen. Boulevardmedien hatten aus den kolportierten Plänen die faktisch falsche, reißerische Formulierung destilliert: "Klassik soll im Lehrplan durch globale und populäre Musik ersetzt werden."

Dann wäre da noch die These, die Klassik sei so verbreitet, weil sie für jeden verständlich sei, am weitesten entwickelt, eine Lingua franca. Dem widersprechen Musikolog/innen wie der Komponist und Forscher Sandeep Bhagwati: "Die globalen Ungleichheiten der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Sphäre machen auch um die Musik keinen Bogen."

Genres und Begriffe stehen zur Debatte: "Klassik", "Jazz", "Folk", "Pop", "zeitgenössische Musik" seien in Österreich musikalische Räume, die nur bestimmten Gemeinschaften offenstehen, schreibt die in Wien lebende Sängerin, Multiinstrumentalistin und Komponistin Golnar Shahyar. Das Genre "Weltmusik" empfindet sie als "musikalisches Gefängnis".

Auch der erfolgreiche Komponist, Musiker und Theoretiker George E. Lewis fragt sich und uns, ob die oben genannten Genres nicht auch dazu dienen, die einen drinnen, die anderen draußen zu halten. Der afroamerikanische Musiker hat zuletzt im "VAN Magazin" Hinweise gegeben, wie man mit diesen Herausforderungen produktiv umgehen kann und "Acht schwierige Schritte zur Dekolonisation der Neuen Musik" formuliert.

Führende Festivals der experimentellen Musik stellen sich der Diskussion. Bei MaerzMusik in Berlin ist das Thema seit Jahren präsent. Das Ensemble Modern hat 2020 ein Symposium unter dem Titel "Afro-Modernism in Contemporary Music" abgehalten. Das ORF musikprotokoll hat sein Programm mit der Ö1 Reihe "Nebenan" kurzgeschlossen und die Kontakte genutzt, die Redakteur/innen bei ihren Reisen geknüpft haben. Die Donaueschinger Musiktage, das älteste Neue-Musik-Festival der Welt, feiern im Oktober 2021 ihren 100. Geburtstag mit dem Finale eines langjährigen Projekts: Intendant Björn Gottstein hat Musikscouts auf alle Kontinente geschickt. Es galt, Musik zu finden, die wir übersehen, weil wir uns gar nicht die Mühe machen hinzuschauen.

Die Ö1 Musikredaktion nimmt das Projekt des altehrwürdigen Avantgarde-Festivals zum Anlass, sich mit all diesen grundsätzlichen Fragen zu beschäftigen - und auch die eigenen blinden Flecken im Programm zu finden. Wir haben daher bewusst keinen zeitlich begrenzten "Programmschwerpunkt" ausgerufen. Das Thema lässt sich nicht abhandeln, abhaken und beiseiteschieben. Fortsetzung folgt.

Gestaltung

  • Rainer Elstner

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