Gerhard Roth in der Nationalbibliothek anlässlich der Überreichung des "Großen Österreichischen Staatspreises 2016"

APA/HERBERT NEUBAUER

1942-2022

Gerhard Roth ist tot

Der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth ist am Dienstag im Alter von 79 Jahren nach schwerer Krankheit gestorben. Er war Träger des Staatspreises für Literatur und hinterlässt ein Monumentalwerk, in dessen Zentrum die beiden Buchzyklen "Archive des Schweigens" und "Orkus" stehen.

Verdrängtes und Vergessenes ins Bewusstsein rufen, das war für Gerhard Roth der Motor seiner literarischen Arbeit. Von den Essays bis zu den beiden Romanen-Zyklen, "Die Archive des Schweigens" und "Orkus", das große Projekt, mit den Mitteln der Literatur eine Epoche sichtbar zu machen.

Gerhard Roth, 2016

Gerhard Roth, 2016

ORF/GERHARD PICHLKOSTNER

Ich bin sehr stolz, dass ich die Zeit mitgeschrieben habe

Entstanden ist ein facettenreiches und komplexes Zeit- und Geschichtspanorama auf insgesamt rund 6.000 Seiten. "Ich habe ja über 30 Jahre mit meinen Figuren zusammengelebt. Ein eigenes Universum, ein kleines. Und am Schluss habe ich eine Befreiung durch den letzten Band erreicht", so Roth im Gespräch mit Ö1.

Experimentelle Prosa, Theaterstücke

1940 in Graz geboren, arbeitete Gerhard Roth nach einem abgebrochenen Medizinstudium als Organisationsleiter im Rechenzentrum Graz. Ab den frühen Siebzigerjahren veröffentlichte er experimentelle Prosa wie "Die Autobiographie des Albert Einstein" und Theatertexte.

In Essays und Interviews meldete er sich immer wieder kritisch zur politischen Situation in Österreich zu Wort und löste damit auch heftige Debatten aus. "Ich bin sehr stolz, dass ich die Zeit mitgeschrieben habe, als es um die Aufarbeitung der Vergangenheit gegangen ist. Das sogenannte Waldheim-Zeit und so weiter - da war ich sehr aktiv."

Reich des Schweigens erkundet

Täter und Opfer, Wahren und Gedächtnis, das Verbrechen und das Verschwiegene. Das waren die zentralen Elemente der Arbeit von Gerhard Roth. Und er hat auch das Reich des Schweigens seiner eigenen Kindheit und Jugend erkundet. In "Das Alphabet der Zeit" erzählte er zum Ersten Mal von sich selbst.

"Während dieses Prozesses habe ich mich selber in eine literarische Figur vor mir verwandelt. Ich habe gesehen, ich muss mich preisgeben. Je mehr ich mich preisgebe, desto mehr kann ich auch anderes preisgeben. Vom Notizenmachen angefangen bis zum Niederschreiben habe ich mich befreit von mir selber." Das war 2007 im vorletzten Band von "Orkus".

Gerhard Roth im Porträt

Gerhard Roth, 2007

ORF/SUSANNA SCHWARZER

Wozu ist der Mensch fähig?

Zehn Jahre später war Gerhard Roth gesundheitlich schon schwer angeschlagen. Ein Blick zurück: "Beim Roman ‚Orkus‘ war ich so weit, dass ich gedacht habe, jetzt werde ich selbst verrückt, weil in diesem Band habe ich die Bücher, die ich in 34 Jahren aufgearbeitet habe, als Grundlage genommen, und einzelne Hauptfiguren zusammengebracht."

Sechs Jahre nach Abschluss des zweiten Zyklus "Orkus" dann ein neuer Anlauf. 2017 legte der unermüdliche Erzähler den ersten Band einer "Venedig"-Trilogie vor "Die Irrfahrt des Michael Adrian". Venedig, das sei die Welt in einer Nussschale, meinte er.

"Was ist der Mensch? Diese Frage beantwortet die Stadt. Und mit dem bin ich offenbar siamesisch-zwillingshaft verbunden. Wozu ist der Mensch fähig? Welche Gewalt – das kann man sich gar nicht vorstellen, und sie wird dann doch durch das nächste Attentat oder eine Kriegsbombardierung übertroffen."

Text. Kristina Pfoser

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